Einladung: Ausstellungseröffnung in Vierkirchen

Die Schicksale zweier KZ-Häftlinge aus Pasenbach und Vierkirchen stehen im Mittelpunkt der Ausstellungseröffnung der Geschichtswerkstatt am 17. Mai 2017 um 19 Uhr in Vierkirchen.

 

Johann Bieringer

Bernhard Weber stellt die Biographie von Johann Bieringer vor, einem Pasenbacher Häusler und Fuhrknecht. Der 1910 geborene Mann erlitt politische Verfolgung im KZ Dachau trotz eines gerichtlichen Freispruchs, in den ersten Jahren des NS-Regimes kein ungewöhnlicher Vorfall. Bernhard Weber recherchierte seine Lebensgeschichte für die Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau und das Gedächtnisbuch. Er beschäftigt sich eingehend mit der Frage, wieso die Nazis Johann Bieringer als politischen Widerstandskämpfer betrachteten und vermutet, dass dies vor allem aufgrund sozialer Zuschreibungen geschah. Bieringer kam 1935 wieder frei und fiel 1943 im Krieg in Russland.

Pfarrer Wilhelm Pflüger

Zweifelsohne im Widerstand aktiv war dagegen Pfarrer Wilhelm Pflüger, dessen Lebensgeschichte der Redakteur der Vierkirchner Heimatblätter Helmut Größ präsentiert. Zwei Jahre wirkte Pfarrer Pflüger in den 50er Jahren in Vierkirchen. Der konservative Seelsorger neigte zu drastischen Predigten und nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund. Dies führte schnell zu Protesten aus der Gemeinde, Pflüger resignierte und übernahm ein Vikariat in der Nähe von Miesbach. Nur wenige Vierkirchner dürften gewusst haben, dass Pflüger sich in den dreißiger Jahren als Mitglied des Harnier-Kreises im Widerstand gegen die Nazis betätigt hatte. Seine entschlossene Haltung brachte ihm Gefängnis- und KZ-Haft ein.

Die Ausstellung „Das Lager und der Landkreis“ ist bis zum 9. Juni im Rathaus Vierkirchen zu sehen. Sie wurde realisiert vom Dachauer Forum in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Vierkirchen, der vhs Dachau Land und dem Gedächtnisbuch Dachau.

(13.5.2017. Text: Stuiber, Fotos: privat)

Gedenken an Dachauer NS-Opfer im Rathaus

Fünf Namen standen im Zentrum der feierlichen Gedenkveranstaltung am 4. Mai im Dachauer Rathausfoyer: Alwine Dölfel, Johann Eisenmann, Dr. Samuel Gilde, Maria Linner und Therese Wildmoser.

Mit ihnen haben fünf weitere Dachauer Bürger, die zum Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft geworden sind, nun einen neuen Stolperstein erhalten. Nach der Verlegung durch den Künstler Gunter Demnig erinnerten die Initiatoren im Rathausfoyer an ihre Lebens- und Leidensgeschichte.

Christoph Triebfürst mit Gedächtnisblatt Samuel Gilde

Stolpersteine für „Euthanasie“-Opfer

Erstmals wird dabei in Dachau auch an drei Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde erinnert. Alwine Dölfel war nach einer Impfung so schwer erkrankt, dass sie eine Behinderung behielt und von ihrer Familie nicht dauerhaft gepflegt werden konnte. Sie wurde im Alter von 13 Jahren am 1. Oktober 1944 in Eglfing-Haar ermordet. Maria Linner hatte nach einer Krankheit ihr Gehör verloren und lebte trotz ihres Berufs als Näherin in einer Dachauer Fürsorgeeinrichtung. Sie war 41 Jahre alt, als sie am 7. November 1940 in der „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hartheim bei Linz vergast wurde. Ebenfalls in Hartheim wurde ein halbes Jahr später, am 25. Februar 1941, Therese Wildmoser getötet. Das 31-jährige Dienstmädchen litt unter Epilepsie. Prof. Dr. Gerrit Hohendorf, Medizinhistoriker der TU München, schilderte die Entwicklung ihrer Krankengeschichten und erläuterte, wie das als „Aktion T4“ bezeichnete Krankenmordprogramm der Nationalsozialisten organisiert war.

Prof. Dr. Gerrit Hohendorf

Familienerinnerungen an Alwine Dölfel

Elfriede Ahr

In bewegenden Worten erinnerte Elfriede Ahr an ihre ältere Schwester Alwine Dölfel. Sie bedankte sich bei den Schwestern von Schönbrunn: Alwine sei es in der Zeit, als sie in Schönbrunn untergebracht war, sehr gut gegangen. Sie habe braungebrannte Bäckchen gehabt und die Schwestern hätten ihr ein hübsches Kleidchen genäht, das sie immer getragen habe, wenn die Familie sie bei ihrem sonntäglichen Ausflug in Schönbrunn besuchte.  Zur Beerdigung nach Haar ist Elfriede mit ihrer Mutter mit dem Fahrrad gefahren. Um 5.00 Uhr Früh sind sie los, trotzdem kamen sie zu spät. Eine Viertelstunde, der Pfarrer sei noch am Grab gestanden. Die Mutter habe es nicht glauben können, dass Alwine tot sei, sie habe versucht, Erkundigungen von den Mitarbeitern in Haar einzuholen. Erst von einer anderen Mutter hätten sie dann mehr erfahren.

 

Ein Monat in „Dachau“ – Spurensuche zu Samuel Gilde

Einen Monat seines Lebens verbrachte der jüdische Arzt Dr. Samuel Gilde in „Dachau“. Christoph Triebfürst beschrieb, wie Gilde in das heute zu Dachau gehörende Augustenfeld zog. Seine letzte frei gewählte Wohnung fand er im Herbst 1938 bei dem jüdischen Schriftsteller Hermann Gottschalk. Nur eine Woche später mussten Gilde und Gottschalk vor der Vertreibung durch die SS fliehen. Gilde wurde kurz darauf verhaftet und am 12. November 1938 wieder zurück gebracht nach Dachau – ins Konzentrationslager. Bis dahin hatte der Mediziner noch zahlreiche Patienten behandelt, obwohl er von den Nazis gezwungen wurde, seine renommierte Praxis aufzugeben. Im Jahr 1942 gibt Gide nur noch „eine Schlafstelle“ als seinen Besitz an. Kurz darauf wird er nach Theresienstadt deportiert , wo er zwei Jahre später stirbt. Neben den Daten gibt es nur wenige Sätze, überliefert zudem aus Täterdokumenten, aus denen Christoph Triebfürst die Dimensionen von Gildes Persönlichkeit und seinen Leidensweg beleuchtete. Der unverheiratete Arzt hatte keine Kinder, andere Angehörige sind nicht bekannt.

Christoph Triebfürst spricht über Samuel Gilde

Johann Eisenmann

Johann Eisenmann wurde 1933 als politischer Gegner ins Gefängnis München Neudeck gebracht. Dr. Björn Mensing berichtete, dass Eisenmann während der Haft im Krankenhaus starb, laut Gefängnisunterlagen an einer Grippe und Blutvergiftung. Die genauen Umstände seines Todes können nicht mehr geklärt werden. Es gibt keinen Hinweis auf Misshandlungen. Johann Eisenmann gehörte um Umfeld des Kommunisten Franz Klein. Er wurde 23 Jahre alt.

Dr. Björn Mensing

Die Veranstaltung wurde musikalisch sehr stimmungsvoll begleitet vom Chor des Integrativen Musikzentrums des Franziskuswerkes Schönbrunn unter Leitung von Tobias Thalmeier.

 

Text Sabine Gerhardus, Foto Triebfürst mit Gedächtnisblatt: Gerhardus, alle anderen Bilder: Stadtfotograf Göttler (herzlichen Dank!)

Neue Stolpersteine in Dachau

Fünf weitere Stolpersteine verlegte der Künstler Gunter Demnig in Dachau am Donnerstag, dem 4.5.2017. Einer ehrt den jüdischen Arzt Samuel Gilde, Christoph Triebfürst recherchierte seine Biographie für das Gedächtnisbuch. Drei weitere Stolpersteine sind Euthanasieopfern gewidmet, der fünfte einem politisch verfolgten Dachauer.

Der Künstler Gunther Demnig verlegt einen Stolperstein
Stolperstein für Samuel Gilde

Samuel Gildes Lebensweg recherchierte Studiendirektor Christoph Triebfürst vom Dachauer Josef-Effner-Gymnasium. Samuel Gilde musste seine etablierte Praxis in München wegen des Berufsverbotes der Nazis für Juden aufgeben und zog im Herbst 1938 zur Miete in das große Haus des jüdischen Schriftstellers Hermann Gottschalk in Dachau-Augustenfeld. Nach der Pogromnacht wurde er vom 12. November bis zum 1. Dezember 1938 im KZ Dachau geschunden. 1942 kam er zunächst ins Zwangsarbeitslager Flachsröste Lohof, dann ins Ghetto Theresienstadt und wurde am 30. Juni 1944 im Alter von 70 Jahren ermordet. Sein Vermieter Hermann Gottschalk wurde ebenfalls im November 1938 aus Dachau vertrieben. Er überlebte in München durch die Treue seiner „arischen“ Frau, kam aber bald nach der Befreiung bei einem tragischen Unfall ums Leben. Das in der NS-Zeit arisierte Haus steht noch. Vor diesem wird der Stolperstein verlegt. Angehörige der ledigen und kinderlosen Arztes konnten nicht ermittelt werden.

 

Erinnerung an Dachauer Euthanasieopfer

Im Mittelpunkt standen bei dieser Stolpersteinverlegung drei der insgesamt etwa 300.000 Euthanasie-Opfer: Alwine Dölfel wurde 1931 geboren und lebte vor ihrer Verfolgung von 1939 bis 1944 in einer katholischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung, die heute zum Franziskuswerk Schönbrunn gehört. Am 1. Oktober 1944 wurde sie in der „Kinderfachabteilung“ der „Heilanstalt“ Eglfing-Haar ermordet. Das Mädchen gehört wie Maria Linner und Therese Wildmoser zu den Opfern der NS-Euthanasie aus Dachau, deren Schicksale im Vorfeld der Stolpersteinverlegung erstmals von Professor Dr. Gerrit Hohendorf (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München) recherchiert wurden. Maria Linner ist Jahrgang 1899, war Näherin und wurde am 7. November 1940 in der Euthanasie-Tötungsanstalt Hartheim (bei Linz) ermordet. Therese Wildmoser wurde 1910 geboren, war Dienstmädchen und wurde am 25. Februar 1941 ebenfalls in Hartheim ermordet. Die Stolpersteine für die Euthanasie-Opfer werden mit Zustimmung der Angehörigen verlegt.

 

Politisch verfolgt: Johann Eisenmann

Ein weiterer neuer Stolperstein erinnert an Johann Eisenmann. Der Hilfsarbeiter wurde 1909 geboren und schloss sich als junger Mann dem Kreis „um den Kommunisten Klein“ an und trat aus der katholischen Kirche aus. In der Nacht zum 22. März 1933 – kurz vor der Einlieferung der ersten Häftlinge ins KZ Dachau –  wurde er bei einer Verhaftungsaktion gegen Dachauer Kommunisten in Schutzhaft genommen und ins Gefängnis München-Stadelheim gebracht. Am 3. April 1933 starb er in politischer Haft unter bis heute ungeklärten Umständen. Er wurde nur 23 Jahre alt.

(7.5.2017, Test PM/Stuiber, Fotos Florian Göttler, Stadtfotograf – herzlichen Dank dafür!)

50 Jahre Versöhnungskirche

Sandra Usselmann, ASF-Freiwillige im Gedächtnisbuch und in der Versöhnungskirche, berichtet von der 50-Jahr-Feier der Kirche, die ihren Platz auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte in Dachau hat. In der Versöhnungskirche liegen die Gedächtnisblätter zur Einsicht aus.

Vier Generationen Freiwillige! Von l. nach r.: Lera Plotnyk, Lynn Williams, Diakon Klaus Schultz, Maya Bakulina, Agathe Halmen und Sandra Usselmann

Am Samstag, dem 29.4.2017, dem 72. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau, feierte die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau ihren 50. Einweihungstag mit einem großen Festgottesdienst. Viele Ehrengäste waren dabei, auch die Holocaust-Überlebenden Nick Hope und Ernst Grube, der Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachau, der während des Gottesdienstes sprach.

Grube wünschte sich in seiner Rede, dass die Erinnerungsarbeit der Kirche im nächsten halben Jahrhundert so weitergehen wird wie bisher. Diese Erinnerungsarbeit war auch während des Gottesdiensts zu sehen. Sechs Kerzen brannten nach den Fürbitten für Opfer des Holocausts auf dem Altar, unter anderem für Rudolf Benario, einen jungen politischen Gegner der Nazis, der schon April 1933 in Dachau inhaftiert worden war und erschossen wurde. Sein Leben ist in einem Gedächtnisblatt dargestellt.

Dieses stille  Zeichen der Ehre für die Vergessenen fand ich sehr passend, aber am ergreifendsten fand ich den Moment ganz zum Schluss, in dem die Glocke geläutet wurde, um an die Befreiung des Lagers zu erinnern. Ohne aufgefordert zu werden, standen alle Gottesdienstbesucher stumm auf und haben während des Glockenläutens eine Minute Stille gehalten.

Mehrere Generationen von ASF-Freiwilligen nahmen an dem Gottesdienst teil. Meine Vorgängerin Agathe Halmen, Freiwillige von 2015 bis 2016, sprach über ihre Gedächtnisbucharbeit zu den drei Brüdern Glas und darüber, wie sehr sich deren Angehörige über ihre Forschungen gefreut haben. Andere, wie Maya Bakulina (Freiwillige 2014-2015) und Lynn Williams (Freiwillige 2012-2014), konnte man  bei dem Empfang, der dem Gottesdienst folgte, sprechen.

Ich selbst fand ein Gespräch, das ich beim Empfang mit dem Sohn eines amerikanischen Befreiers des Lagers führen konnte, am schönsten an der ganzen Feier. Er war sehr engagiert und erzählte mir viel über seine sehr interessante Familiengeschichte.

Das Ganze war schon viel Arbeit, aber ich bin froh, dass ich bei so einem Ereignis dabei sein konnte und mithelfen konnte. Es sind Erinnerungen wie diese, die ich mitnehmen werde, wenn mein Dienst hier zu Ende ist und ich wieder heimfahre.

(5.5.2017, Text Sandra Usselmann)

Gedenkveranstaltung zum Todesmarsch in Dachau

Von den Qualen und Torturen, die er erleiden musste, erzählte Abba Naor auf der Gedenkfeier Todesmarsch in Dachau am 29. April 2017.

Abba Naor erinnert sich an den Todesmarsch

Während das Konzentrationslager am 29. April 1945 befreit wurde, mussten die Häftlinge des Todesmarsches noch länger durchhalten. Am 2. Mai erlebten Abba Naor und seine Schicksalsgefährten ihre Befreiung durch die Amerikaner in Waakirchen. Die Befreiung bedeutete auch die Nachricht, dass von der eigenen Familie niemand überlebt hatte. „Wir waren frei. Glücklich waren wir nicht. Aber wir waren frei. Und deshalb werden wir diesen Tag niemals vergessen.“

Der bayerische DGB-Vorsitzende Matthias Jena dankte den Veranstaltern dafür, jedes Jahr einen andere Opfergruppe in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu stellen. Er erinnerte an die Ausschaltung der Freien Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten und an Berl Lörcher, der die Haft in den KZs überlebt hatte und der Gewerkschaftsbewegung sein ganzes Leben kritisch verbunden blieb. Bereits 1952 begann die bayerische Gewerkschaftsjugend damit, jedes Jahr eine Gedenkfeier zur Reichspogromnacht abzuhalten. Jena appellierte an die Zuhörer: „Vergesst nicht die Toten. Vergesst nicht die Ursache des Mordens.“

„Freiheit, Menschlichkeit und Solidarität sind Werte, die von jeder Generation aufs Neue errungen werden müssen. Diese Botschaft geht für mich von Gedenkveranstaltungen wie dieser aus.“, betonte der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann in seiner Ansprache.

 

Fotos von der Gedenkveranstaltung

 

(30.4.2017. Text und Fotos Irene Stuiber)

 

Wir trauern um Jan van Kuik

28.4.2017. Heute Morgen ist Jan van Kuik gestorben, so erfuhren wir von seinem Sohn Hans. Im März 2014 besuchte der niederländische Überlebende des KZs Dachau noch die Gedenkstätte und Gijs Berendse stellte im Karmel Kloster sein Gedächtnisblatt vor.

Jan van Kuik und Gijs Berendse in der Gedenkstätte Dachau, März 2014

Jan van Kuik war erst 18, als er 1941 für den Arbeitseinsatz nach Deutschland fuhr, so erzählte er in dem Interview, das Gijs, damals Schüler des Cartesius Lyceum in Amsterdam, mit ihm führte. Als er 1942 mit vier anderen Niederländern in die Schweiz zu fliehen versuchte, wurden sie im Grenzort Lustenau, im heutigen Österreich, verhaftet. Alle kamen nach zwei Monate Haft wieder zurück an ihren Arbeitsplatz, außer Jan, der als Rädelsführer bezeichnet wurde.

Jan wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt, wo er missbraucht wurde für medizinische Versuche. Von hier aus kam er ins KZ Majdanek und entkam durch einen Zufall dem Tod in der Gaskammer. Stattdessen wurde er über das KZ Natzweiler nach Dachau verschleppt. Hier überlebte er nur knapp eine Flecktyphus-Erkrankung.

Sowohl körperlich als auch seelisch wurde Jans Leben in der Nachkriegszeit stark von seinen Hafterfahrungen geprägt. Dennoch sagte er in dem Interview, das er Gijs gab: ‚Das Leben ist schön. […] Und das Leben ist kurz. Also muss man es jeden Tag genießen. Das tue ich. Jeder neue Tag ist einer.‘

(Text Jos Sinnema)

 

Wiedersehen mit Ernst Sillem

Sydney Weith hat 2013 über Ernst Sillem ein niederländisches Gedächtnisblatt verfasst. Im Januar 2017 traf sie den Dachau-Überlebenden in Südfrankreich wieder. Hier ihr Bericht.

Ernst Sillem und Sydney Weith
Ernst Sillem und Sydney Weith

 

Ernst Sillem. Das ist der Mann, über den ich im Jahre 2013 ein Gedächtnisblatt verfasst habe. Ein Holländer, der nach dem Krieg nicht lange in den Niederlanden blieb und der, nachdem er 28 Jahre lang in Marokko gelebt hatte, in Südfrankreich seine Heimat fand. Dort zauberte er eigenhändig aus einer Ruine einen schönen Palast. Als wir uns das erste Mal begegneten, erzählte er stolz über diesen Palast, in dem er bis heute mit seinen zwei Hunden Cast und Tara wohnt. Ich hatte nie die Chance, ihn dort aufzusuchen. Bis letzten Januar.

Nach anderthalb Tagen Autofahrt kamen mein Freund und ich in Pernes-les-Fontaines an, einem winzigen Dorf in der Nähe von Marseille. Über einen schmalen Weg erreichten wir Ernsts Wohnung, wo das Tor bereits für uns geöffnet war. Das Wiedersehen war etwas ganz Besonderes, die zwei Tage, die darauf folgten, ebenso. Wir haben Erinnerungen aufgefrischt, uns Fotoalben angeschaut und französischen Wein getrunken. Auch haben wir viele Spaziergange durch die wunderschöne Umgebung voller Wälder und Weingärten gemacht. Ernst steht jeden Morgen um 5 Uhr auf, um, sobald es hell wird, mit seinen Hunden hinauszugehen. Zum Glück für mich war es Winter, als wir ihn besuchten, und es wurde erst um 8 Uhr hell. Die Spaziergänge, die wir morgens zusammen gemacht haben, waren gemütlich, und ich habe mich darüber gewundert, wie ein 93-jähriger Mann fähig ist, solche steile Strecken durch den Wald zu gehen. Er erklärte mir, dass er kleine Tricks dafür hat. Manchmal lässt er sich von seinen Hunden ‚ein bisschen den Berg herauf ziehen‘. Auch ruht er unterwegs bei einem bestimmten Baumstumpf immer ein wenig aus. Vielleicht das Rezept, um gesund und vital alt zu werden?

Die Zeit flog vorbei, ich wäre gerne noch etwas länger geblieben. Ich glaube, Ernst dachte genauso darüber, denn er sagte, er hätte uns gerne noch etwas mehr von der Umgebung gezeigt. Und als wir abfuhren, lud er uns gleich ein, nochmal vorbeizukommen. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, werde ich dies sicher tun. Aber dann im Sommer, damit ich herrlich in seinem Swimmingpool planschen kann!

Das Gedächtnisbuchprojekt hat mir viel gebracht. Das Schönste von allem ist die Beziehung, die ich mit einem ehemaligen Häftling aufbauen konnte. Alle Erfahrungen werde ich mit mir mittragen. Auch dieser Besuch hat mir einen Schatz an Erinnerungen geliefert.

(25.4.2017. Text: Sydney Weith)

Jugendbegegnung des Bundestags: Schwerpunkt Euthanasie

Aufgrund ihres wissenschaftlichen Engagements beim Verfassen von Kurzbiographien zu einigen jüdischen Lehrern wurde die Bamberger W-Seminar-Teilnehmerin Anne-Aileen Heitmüller zur Jugendbegegnung des Bundestags 2017 eingeladen. Sie berichtet für uns darüber.

Euthanasie-Denkmal

 

Die Jugendbegnung 2017 in Berlin

Vom 23 bis 27. Januar 2017 fand im Rahmen des Deutschen Bundestags eine Jugendbegnung für 78 Jugendliche im Alter von 17 – 25 Jahren aus 17 verschiedenen Nationen statt. Höhepunkt dieser Woche stellte die Teilnahme an der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, die in diesem Jahr speziell den Euthanasieopfern gewidmet war, am 27. Januar im Plenarsaal des Bundestags dar. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden aufgrund ihres besonderen Engagement für Projekte mit Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus oder gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu dieser gemeinsamen Woche im Raum Berlin mit dem Thema der Gedenkstunde „Euthanasie“ eingeladen. Ich wurde aufgrund meines Engagements für meine wissenschaftliche Arbeit „Die Kurzbiographien der Lehrer Ascher Eschwege, Noa Sichel und Hirsch Wolfrom aus Kleinsteinach“ im Rahmen des W-Seminars „Jüdisches Leben in Bamberg und Umgebung im 20. Jahrhundert“ des Eichendorff-Gymnasiums als Teilnehmerin für diese Woche geladen.

 

Arbeitsgruppen in Pirna-Sonnenstein

Nach meiner Ankunft am Paul-Löbe-Haus im Herzen Berlins am Montag, den 23. Januar, wurden wir herzlichst von den Betreuern der Jugendprojekte des Deutschen Bundestags begrüßt. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde im Plenum fuhren wir gegen 18.30 Uhr gemeinsam in die sächsische Schweiz, in die Stadt Pirna. An den zwei darauffolgenden Tagen befassten wir uns im Allgemeinen in unseren Arbeitsgruppen mit der ehemaligen „Heil- und Pflegeanstalt“ Pirna-Sonnensteins, in der es zur Zeit des Hitlerfaschismus zur Tötung von geistig bzw. körperlich Behinderten kam. Dort besichtigten wir die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein (Gaskammern, Krematorium, Wartezimmer etc.), setzten uns mit Quellenarbeiten in den jeweiligen Arbeitsgruppen auseinander und führten größtenteils emotionale Diskussionen zum aktuellen Umgang mit Menschen mit Behinderung und zum Thema der Sterbehilfe in Deutschland.

 

Berlin: Diskussionen und Gedenken

Nach den zwei Tagen intensiver Auseinandersetzung mit den Opfern und den skrupellosen Vorgängen und Maßnahmen im Rahmen der „Euthanasie“-Morde befassten wir uns, nach der Ankunft im 200 km entfernten Berlin, nun mit den Tätern und Befürwortern dieser systematischen Ermordung. Dabei besuchten alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Donnerstag den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Bekannt ist diese spezielle Straße aufgrund der daraus gebildeten Bezeichnung „Aktion T4“ (T4: Tiergartenstraße 4), die die gezielte Ermordung geistig und körperlich behinderter Menschen beinhaltete, und der dort stationierten Zentraldienstelle T4 in der Tiergartenstraße 4. Außerdem besuchten wir die Ausstellung „Wir sind viele“ im Paul-Löbe-Haus, die aus 50 Porträts behinderter Frauen, Männer und Kinder des Fotografen Jim Rakete besteht. Des Weiteren hörten wir Vorträge in der historischen Charité von Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach und Prof. Dr. Thomas Beddies über die Charité im Nationalsozialismus anhand des Beispiels der Kinderheilkunde. Zur Abrundung des vorletzten Tages der Jugendbegegnung 2017 schauten wir zusammen am Erinnerungsort „Topographie des Terrors“ den Film „Nebel im August“, der letztes Jahr in den Kinos war. Dabei hatten wir Gelegenheit mit den Hauptdarstellern und dem Regisseur Kai Wessel über die Herausforderungen, einen Film nach einer wahren Begebenheit über das Thema Euthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus zu drehen, zu diskutieren.

 

Gedenkstunde im Bundestag

Am 27. Januar durften wir, wie zu Beginn schon genannt, an der Gedenkstunde unter dem Thema „Euthanasie“-Morde zur Zeit des Dritten Reichs teilnehmen. Dabei trafen wir Angela Merkel, Sigmar Gabriel, Thomas de Maizière, Bundestagspräsident Norbert Lammert und Frank-Walter Steinmeier. Nach der einstündigen Gedenkstunde hatten wir die Gelegenheit, den drei Hauptrednern Sigrid Falkenstein, Hartmut Traub und dem Schauspieler Sebastian Urbanski, der am integrativen Theaterprojekt „für Menschen mit sogenannter Behinderung“ namens RambaZamba in Berlin arbeitet, und Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, in einem Podiumsgespräch Fragen zu stellen. Nach einer abschließenden Auswertung und Verabschiedung im Plenum war somit die Jugendbegegnung 2017 beendet.

Dieses Zusammentreffen von verschiedensten Personen aus unterschiedlichsten Ländern und der Austausch von Ansichtsweisen hat mich in meinem Denken vorangebracht. Zudem konnte ich mich erstmals intensiv mit dem Thema „Euthanasie“ in der NS-Zeit auseinandersetzen, das während meiner Realschulzeit vor dem Gymnasium leider nicht behandelt wurde.

(Text und Bild: Anne-Aileen Heitmüller)

Wir danken Björn Mensing dafür, dass er bei seinem Vorschlag für die Jugendbegegnung des Bundestags an Teilnehmer des Gedächtnisbuchprojekts und des BLLV-Projekts Erinnern gedacht hat.

Schüler des Het Baarnsch Lyceum berichten über Dachau-Aufenthalt

Anna, Dhanya, Jet und Duco haben uns einen Bericht über ihren Aufenthalt in Dachau geschickt. Am 2. April stellten sie in einem Gedenkgottesdienst in der Versöhnungskirche ihr Gedächtnisblatt zu Meindert Hinlopen vor.

Die Verfasser des Gedächtnisblatts über Meindert Hinlopen

Anna de Rijk, Dhanya Boustanji, Jet Schoonderbeek und Duco Fabrie, Schüler des Het Baarnsch Lyceum, Baarn, Niederlande, schreiben uns:

Samstag, den 1. April sind wir von Amsterdam aus nach München geflogen, um in der Gedenkstätte Dachau eine Biographie zu präsentieren. Die Präsentation fand während eines Gottesdienstes statt, der Meindert Hinlopen gewidmet war, einem niederländischen Pfarrer, über den wir ein Gedächtnisblatt angefertigt haben.

Am Samstag hatten wir zuerst eine beeindruckende Führung auf dem ehemaligen KZ-Gelände. Drei Töchter und ein Schwiegersohn von Meindert Hinlopen waren mit dabei, sowie unser Betreuer Jos Sinnema und unser Geschichtslehrer Peter Mreijen. Als wir am Samstagabend im Hotel Fischer Abendessen waren, schloss sich uns noch Pfarrer Björn Mensing an, der am nächsten Tag den Gottesdienst leiten würde.

Der Gottesdienst fand am Sonntagmorgen in der Versöhnungskirche statt, auf dem ehemaligen KZ-Gelände und nur ein wenig entfernt von der Stelle, wo einst der Block der Geistlichen stand, wo auch Meindert Hinlopen untergebracht war. Der Vortrag, den wir auf Deutsch hielten, wurde von den Angehörigen und den anderen Anwesenden sehr geschätzt. Am Nachmittag sind wir nach München gefahren und haben uns einige historische Gebäude angeschaut.

Am Montagmorgen vor der Heimreise haben wir dann auch noch den Waldfriedhof besucht, wo 1400 ehemalige KZ-Häftlinge bestattet sind, die während der Todesmärsche oder kurz nach der Befreiung gestorben sind. Zum Schluss sind wir nach Herbertshausen gefahren und haben uns den ehemaligen Schießplatz angeschaut, wo 1941-1942 ungefähr 4000 russische Soldaten hingerichtet wurden.

Der Besuch in Dachau hat unsere Arbeit für das Gedächtnisbuch, die zugleich unsere Facharbeit ist, komplett gemacht. Eine besonders lehrreiches Projekt!

(6.4.2017, Text: Anna de Rijk, Dhanya Boustanji, Jet Schoonderbeek und Duco Fabrie, Foto: Sabine Gerhardus)