Das Gedächtnisbuch trauert um Erwin Schild (1920-2024)

Am Samstag, den 6. Januar 2024 starb Erwin Schild in seinem 104. Lebensjahr in seiner zweiten Heimatstadt Toronto. Erwin Schild hat die Herzen der Menschen berührt, die mit ihm zu tun hatten – ob privat, beruflich oder auch bei seinen Reisen nach Europa und bei seinem unermüdlichen Engagement für den jüdisch-christlichen Dialog.

V.l.n.r.: Sabine Gerhardus, Laura Schild und Erwin Schild in Ottawa 2012

Dass er Zuversicht und Hoffnungsfreude mit anderen teilen konnte, machte eine Begegnung mit ihm zu einer ganz besonderen Erfahrung. Im November 2014 sprach Erwin Schild im Dachauer Rathaus über seine Erinnerungen und appellierte an Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Jeder Flüchtling habe das Recht, bei jedem von uns Zuflucht zu finden. Nie dürften wir die Hoffnung aufgeben, dass die Menschen doch lernen würden, sich vom Hass abzuwenden. Nun ist die leise, aber kraftvolle und ermutigende Stimme Erwin Schilds verstummt.

Als Erwin Schild 2012 die Gedächtnisbuch-Ausstellung Namen statt Nummern an der Carleton-University in Ottawa eröffnete, hielt er eine Rede, die an eine Predigt erinnerte. „Unsere Ausstellung unterstreicht […] die unglaubliche Kraft des menschlichen Durchhaltevermögens, des Glaubens und des Mutes – und das Beharren darauf, dass das Böse nicht das letzte Wort hat. Die Ausstellung weist feige Versuche zurück, zu vergessen, zu verscharren und abzustreiten, sondern nimmt in Trauer und Demut die Verantwortung an, zu wissen und zu handeln.“ Und er fuhr fort mit Worten, die heute nicht aktueller sein könnten: „Die Zukunft beginnt heute, wenn wir die Stimmen hören, die uns zur Verantwortung rufen. Eine Stimme erklingt aus dem Zeugnis unserer Ausstellung `Namen statt Nummern´. Wir können die Vergangenheit, die unsere Ausstellung zeigt, nicht ändern, aber wir können eine andere Zukunft bauen.“

Erwin Schild ist in Köln aufgewachsen. Er war 18 Jahre alt und Student der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt Würzburg, als am 9. November 1938 mitten in der Nacht bewaffnete Horden in seinen Schlafraum im Wohnheim drangen, die Studenten bedrohten und die gesamte Einrichtung kurz und klein schlugen. Am nächsten Tag wurde er zusammen mit seinen Mitstudenten erst ins Gefängnis und dann ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit und die Ermordung seiner Eltern ließen ihn nie mehr los. Seine Lebensgeschichte hat Steffi Falk 2005 für das Gedächtnisbuch aufgeschrieben. Ausführlicher ist sie in einem seiner vier Bücher nachzulesen: The Very Narrow Bridge. Die Reder anlässlich der Ausstellungseröffnung „Namen statt Nummern“ ist in „The Crazy Angel“ veröffentlicht.

Erwin Schild war möglicherweise der letzte Überlebende des Konzentrationslagers Dachau, der während der Novemberpogrome 1938 Terror und Gewalt der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung erleben musste. Über 40 Jahre lang war Erwin Schild Rabbiner der Adath Israel Congregation in Toronto. Er war Seelsorger und Lehrer, ein Vorbild für seine Gemeindemitglieder wie für Familie und Freunde.

Am 8. Januar 2024 versammelten sich Familie, Freunde und Gemeindemitglieder in der Synagoge der Adath Israel Gemeinde in Toronto, um sich in einer bewegenden Trauerfeier von ihrem hochverehrten Rabbi Emeritus zu verabschieden. Diese Trauerfeier ließ sich über einen Livestream verfolgen.

Wie groß die Trauer, aber auch die Dankbarkeit für die Begegnung mit ihm sind, war den Rednern anzumerken. Der Erste Rabbiner der Gemeinde, Rabbi Adam Cutler, Erwin Schilds ältester Sohn Daniel, seine Tochter Judith, zwei seiner Enkel und weitere Weggefährten erinnerten an persönliche Erlebnisse mit ihrem Mentor, Vater und Großvater: „Schmerzlich vermissen wir seine Weisheit, seine Führung und seine Herzensgüte“, so Adam Cutler. Daniel Schild zitierte aus einer Erinnerung seines Vaters an das Konzentrationslager Dachau: „Als ich in Dachau inhaftiert war, hatte ich mir geschworen: Sollte ich lebend herauskommen, was nicht sehr wahrscheinlich war, würde ich niemals zulassen, dass mich ein zukünftiges Unglück niederdrückt oder besiegt. An dieses Gelübde habe ich mich gehalten.“

Ich kann mich dem Wunsch seines Enkels Aaron Weinroth nur anschließen: „Leider liegt es nun an unseren unvollkommenen Fähigkeiten, seine Arbeit fortzusetzen. Wir müssen hoffen, dass er uns gut gelehrt hat, und unser Bestes tun.“ Erwin, danke für die Brücken, die Du gebaut hast, für Deine Freundschaft und Ermutigung. Ruhe in Frieden!

Erwin Schild – Gedächtnisblatt

(21.1.2024; Sabine Gerhardus)

 

Tim Locke: 85 Jahre nach dem Alptraum

Tim Locke, der Enkel der in Auschwitz ermordeten Vera Neumeyer, berichtet in seinem Blog ausführlich über seinen Dachau-Besuch im November 2023.

In diesem Haus wohnte Vera Neumeyer 1938 (Foto 2024)

In dem Haus, in dem Tim Locke aufgewachsen ist, war die Großmutter auf einem Foto präsent: „The photo of Vera was in a frame by my mother’s bed, her beautiful face among two other pictures – a postcard of Dachau and the outside of the Neumeyer house.“

Im November 1938 vertrieben die Nazis die Dachauer Juden aus der Stadt. Es geschah vor aller Augen. Dieser schreckliche Vorgang jährte sich im November 2023 zum 85. Mal. So nennt Tim Locke seinen Blogbeitrag
Dachau revisited: 85 years after the nightmare

Er berichtet ausführlich von seinen Erfahrungen während des Besuchs, dem Besuchsprogramm inklusive eines Podiumgesprächs und auch von der medialen Resonanz.

(15.1.24; IS)

Gedächtnisbuch-Ausstellung in Pennsylvania

Im November 2023 zeigte die Shippensburg University in Pennsylvania die Wanderausstellung „Namen statt Nummern“ des Gedächtnisbuchs. Präsentiert wurde sie in der Ezra Lehman Memorial Library vom 6. bis zum 29. November.

Ausstellungseröffnung in Pennsylvania

David Wildermuth, Associate Professor of German an dieser Universität, und Monika Moyrer, Länderbeauftragte und Programmkoordinatorin in den USA von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, eröffneten die Ausstellung.

Monika Moyrer erläuterte zur Eröffnung die Besonderheiten des Gedächtnisbuch-Projekts: „What is special about this project? As we know, upon entrance into a concentration camp, prisoners were de-humanized by taking away their name. Instead they received a number. In this case, the project participants reconstruct individual life stories of Dachau prisoners and save them from oblivion. They reconnect with relatives, conduct interviews and reconstruct the biography, until the person behind the number comes alive.“

Dass die Ausstellung in Shippensburg gezeigt wurde, geht auf die Anregung von Sarah Brunner zurück, die 2022/23 das Gedächtnisbuch als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste unterstützt hat und davor an der Shippensburg University ihren Bachelor erworben hatte.

(7.1.2024; IS)

Weihnachtsgrüße aus Frankreich

Marine Charbonneau, 2023/24 Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste im Gedächtnisbuch, nutzt den weihnachtlichen Familienbesuch in Frankreich auch zu Aktivitäten rund um das Gedächtnisbuch. Hier ihr neuester Bericht.

Militärarchiv in Vincennes

Am Freitag, dem 22. Dezember, kehrte ich nach Frankreich zurück, um die Weihnachtsfeiertage hier zu verbringen. Ich fuhr in die Stadt Vincennes, die sich östlich im Großraum von Paris befindet, um zum ersten Mal das Militärarchiv zu erkunden. Der Rahmen war sehr beeindruckend, da sich das Archiv im Inneren des mittelalterlichen Schlosses von Vincennes befindet, das nun Sitz des Service historique de la Défense ist, des zentralen Archivs des französischen Verteidigungsministeriums und der französischen Armee.

Unvertraut mit dem System wurde ich herzlich von Mitarbeitern des Archivs empfangen, die mich während des gesamten Besuchs führten. In einem großen Saal, der mit Holzfußböden und eleganten Gemälden geschmückt war, erkundete ich zwei Dossiers über Jean-René Lafond, über den ich eine Biographie für das Gedächtnisbuch verfasse. Diese Erfahrung war für mich eine Quelle von Überraschungen und Erleichterung, denn ich konnte Antworten auf viele Fragen erhalten. Mein Besuch war nicht vergeblich, denn etwa 250 Dokumente erwarteten mich! Ich freue mich darauf, diese Entdeckungen bald mit seiner Familie in Saint-Estèphe zu teilen.

Nach diesem Besuch lernte ich Paul kennen, einen ehemaligen französischen Freiwilligen in Dachau im Jahr 2019. Wir trafen uns in einem kleinen japanischen Café in der Hauptstadt; endlich bin in der Lage, ein Gesicht zu einer Stimme hinzuzufügen. Seit Oktober haben wir schriftlich und telefonisch Erfahrungen über unseren Freiwilligendienst in Dachau ausgetauscht.

Version française

Paul und Marine

Vendredi 22 décembre, de retour en France pour les fêtes de Noël, je me suis rendue dans la ville de Vincennes située dans la banlieue est de Paris, afin de découvrir les archives militaires pour la première fois. Le cadre était très impressionnant car les archives se trouvaient à l’intérieur du château médiéval de Vincennes, maintenant siège du service historique de la Défense. 

Peu familière avec le système, j’ai été accueillie chaleureusement par des agents qui m’ont guidé pendant tout au long de la visite. Dans une vaste salle ornée de parquets en bois et de tableaux élégants, j’ai exploré mes deux dossiers concernant Jean-René Lafond sur lequel je rédige ma bibliographie commémorative pour le Projet du Livre de la Mémoire. Cette expérience a été pour moi source de surprises et de soulagement, car j’ai pu obtenir des réponses à de nombreuses interrogations. Ma visite n’a pas été vaine, car près de 250 documents m’attendaient ! Je me réjouis d’avance du moment de partager ces découvertes avec la famille de Saint-Estèphe.

A la suite de cette visite, j’ai fait la connaissance de Paul, ancien volontaire français à Dachau en 2019. Nous nous sommes retrouvés dans un petit café japonais de la capitale, enfin capables de mettre un visage sur une voix. Depuis octobre, nous avons échangé par écrit et par téléphone au sujet de notre expérience au Mémorial. 

(26.12.23; Marine Charbonneau/IS)

Video-Workshop zu Max Mannheimers Kunst

Im November 2023 nahm Marine Charbonneau, ASF-Freiwillige im Gedächtnisbuch, an einem Workshop zu Max Mannheimers Leben und seiner Kunst teil. Hier folgt ihr Bericht, in Deutsch und Französisch.

Screenshot aus dem Video

 

Freitag, der 17. November, war ein sehr interessanter Nachmittag. Ich ging zum Max Mannheimer Haus, um an einem Workshop über sein Leben und seine Kunst teilzunehmen. Wir waren 6 junge Frauen und wir haben online Videos über Max Mannheimers Leben geschaut. Dann hat uns die Organisatorin gebeten, selbst ein kurzes Video zu machen.

Wir haben eine bestimmten Punkt in seinem Leben ausgewählt, über den wir reden wollten. Carlotta (eine Freiwillige im Max Mannheimer Haus, die ich schon von dem Ausbildungskurs in deren KZ-Gedenkstätte Dachau kannte) und ich haben uns entschieden, uns mit seinen Kunstwerken zu beschäftigen. Mit Büchern, Fotos und unseren Handys konnten wir unserer Fantasie freien Lauf lassen.

Während des ganzen Nachmittags hatten Carlotta und ich mit viel Vergnügen ein Video gemacht. Wir hatten uns selbst am Handy aufgenommen und es war eine Gelegenheit für mich, ein Video auf Deutsch zu machen, das ich weiter jeden Tag lerne. Am Ende der Tags haben wir uns abwechselnd interviewt. Am Sonntag, den 20. November 2023, waren wir glücklich, der Film über den Workshop bei der 25-Jahres-Feier des Max Mannheimer Hauses zu entdecken.

Version française

Le vendredi 17 novembre était une après-midi très intéressante. Je suis allée à la Max-Mannheimer Haus pour participer à un Workshop sur sa vie et son art. Nous étions 6 jeunes femmes et nous avons commencé par regarder des vidéos en ligne sur la vie de Max Mannheimer. Par la suite, l’organisatrice nous a proposé de réaliser nous-même une courte vidéo en choisissant un point en particulier de sa vie sur lequel nous voulions nous exprimer. Carlotta (une volontaire de la Max-Mannheimer Haus qui suit avec moi les Ausbildungsklass) et moi avons décidé de parler de ses œuvres d’art. A l’aide de livres, de photos et de notre téléphone, nous avons laissé notre imagination parler. Pendant toute l’après-midi, Carlotta et moi avons pris beaucoup de plaisir à réaliser cette vidéo. Nous nous sommes enregistrés avec le téléphone et c’était pour moi l’opportunité de réaliser une vidéo en allemand que je continue d’apprendre tous les jours. Pour finir la journée, nous avons été chacune notre tour interviewées. Le dimanche 19 novembre nous avons eu le plaisir de découvrir le film qui avait été fait au sujet de notre workshop lors de la cérémonie des 25 ans de la Max-Mannheimer Haus.

(18.12.2023; Marine Charbonneau/IS)

 

Angehörigenbesuch in der Gironde

Marine Charbonneau, Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste im Gedächtnisbuch, besuchte in den letzten Novembertagen die Familie von Jean-René Lafond in der Gironde. Hier folgt ihr Bericht:

Im Rahmen der Arbeit an einer Biografie über Jean-René Lafond für das Gedächtnisbuch reiste ich Ende November in das kleine Dorf Saint-Estèphe in der Gironde, das in der Nähe von Bordeaux in Frankreich liegt. Dort konnte ich die Region Médoc kennenlernen und mir wurde schnell klar, dass dies sowohl die Region der Schlösser als auch der endlosen Weinberge ist.

Das Wunderbarste an all dem war jedoch die Begegnung mit der Familie Lafond, die mich so herzlich aufgenommen hat. Nach einigen Telefonaten, um meine Reise von Dachau nach Saint-Estèphe zu organisieren, konnte ich endlich Jean-Claude, den Sohn von Jean-René Lafond und seine Frau Maryse sowie Claudine , die Tochter von Jean-René Lafond, kennenlernen. Ich konnte ihnen mein Projekt genauer erklären und vor allem konnte ich durch ihre Aussagen und unsere Gespräche ihren Vater, einen nach Dachau deportierten Widerstandskämpfer aus Bordeaux und Gründer eines Maquis in der Region, ein wenig besser kennenlernen.

Es liegt noch viel Arbeit vor mir, aber ich freue mich darauf, diese Arbeit am 22. März 2024 bei der Jahrespräsentation des Gedächtnisbuchs vorstellen zu können.

Die Atmosphäre war während meines gesamten Aufenthalts sehr offen und ich bin jetzt noch motivierter für dieses Schreibprojekt, das mir sehr am Herzen liegt. Ein großes Dankeschön an meine Gastgeber für ihre Gastfreundschaft und ihre Hilfe!

Version française

Dans le cadre de l’écriture de ma biographie sur Jean-René Lafond pour le Livre de la Mémoire, je me suis rendue à la fin novembre dans le petit village de Saint-Estèphe en Gironde, près de Bordeaux, en France. J’ai pu y découvrir la région du Médoc et j’ai rapidement compris que c’était à la fois la région des châteaux, mais également des vignes à perte de vue.

Mais ce qui était le plus merveilleux dans tout cela, c’était la rencontre avec la famille Lafond qui m’a accueilli si chaleureusement. Après quelques échanges téléphoniques pour organiser mon voyage de Dachau jusqu’à Saint-Estèphe, j’ai enfin pu rencontrer Jean-Claude (fils de Jean-René Lafond) et sa femme Maryse, ainsi que Claudine (fille de Jean-René Lafond). J’ai pu leur expliquer mon projet de manière plus approfondie et surtout, j’ai pu au travers de leur témoignage et de nos discussions connaître un petit peu plus leur père, ancien déporté à Dachau, résistant bordelais et fondateur d’un maquis de la région.

Il me reste encore beaucoup de travail, mais j’ai hâte de pouvoir présenter ce travail le 22 mars 2024, lors de la cérémonie annuelle du livre de la mémoire à Dachau.

L’atmosphère était très ouverte pendant tout le long de mon séjour chez eux et je suis encore plus motivée par ce projet d’écriture qui me tient beaucoup à cœur. Un grand merci à eux pour leur accueil et pour leur aide.

(16.12.2023; Marine Charbonneau/IS)

Max Mannheimer Haus feiert 25-jähriges Jubiläum

Am 19. November 2023 beging das Max Mannheimer Haus sein 25-jähriges Gründungsjubiläum mit einem Festakt. Die pädagogische Leiterin Felizitas Raith begrüßte zahlreiche Gäste aus Politik und Erinnerungsarbeit, Unterstützer und langjährige Mitstreiter.

Sabine Gerhardus und Franz Brückl beim Jugendbegegnungszeltlager, ca. 1985-89

Gratulationen und Grußworte kamen von der Bayerischen Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales Ulrike Scharf, von der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch, vom Oberbürgermeister der Stadt Dachau Florian Hartman sowie vom Landrat des Landkreises Dachau Stefan Löwl.

Bernhard Schoßig, der erste Leiter des Studienzentrums, blickte auf die Entstehungsgeschichte des Max Mannheimer Hauses zurück. Schoßig erinnerte daran, dass bereits Anfang der 1980er Jahre die ersten Forderungen nach einer Bildungseinrichtung, einer „Internationalen Jugendbegegnungsstätte“ in Dachau laut wurden, als dieser Wunsch in der Dachauer Politik noch auf vehemente Ablehnung stieß.  

Jugendbegegnungszeltlager. In der Mitte: Richard Titze und Franz Müller, ca. 1985-89

Den Forderungen wurde während der jährlich stattfindenden Jugendbegegnungszeltlagern Nachdruck verliehen. An deren Erfahrungen konnte das Studienzentrum anknüpfen und sich von Beginn an als wegweisende Bildungseinrichtung erweisen.  Das der Name „Jugendgästehaus“ dieser Aufgabe nicht Rechnung trug, sieht Schoßig als Zeichen für die fehlende Akzeptanz in der Anfangszeit. Er sei sehr froh gewesen, als zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden sich sein Wunsch nach einer Umbenennung erfüllt habe. Mit „Max Mannheimer Haus“ habe die Einrichtung 2016 einen würdigen Namen erhalten.

Podiumsdiskussion: Diskrepanz in der Erinnerungsarbeit zwischen Anspruch und tatsächlich Möglichem

Der aktuell gravierende Anstieg von antisemitischen Vorfällen und Straftaten bestimmte die Podiumsdiskussion mit Elke Gryglewsky (Direktorin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten), Ludwig Spänle (Staatsminister a.D., MdL, Beauftragter gegen Antisemitismus) und Ulrike Scharf. Die Terrorangriffe der Hamas in Israel und die seitdem auch in Deutschland noch lauter gewordenen Anfeindungen gegen Juden bereiten nicht nur den Diskussionsteilnehmer*innen, sondern offensichtlich auch zahlreichen Besuchern und Besucherinnen Sorge. Ludwig Spänle zitiert aus einer der zahlreichen Hassmails gegen Juden, die ihn als Beauftragten gegen Antisemitismus erreichen.

Elke Gryglewsky sprach von der Sorge um Freunde in Israel, die die Arbeit der Gedenkstätte seit den Terrorangriffen im Oktober bestimmte. Sie wies dabei auf eine Schräglage der Debatten hin, wenn Antisemitismus in Deutschland schnell als reines Phänomen unter Immigranten dargestellt und dabei immer offensichtlicher werdende Judenfeindlichkeit in allen Teilen der Gesellschaft übersehen würde. Umso wichtiger sei die Erinnerungsarbeit. Allerdings, so Gryglewsky, sei es für die Erinnerungsarbeit ein Dilemma, dass es eine ständige Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und dem, was möglich sei, gebe. Hoffnungsvoll stimmt, dass das Interesse unter Jugendlichen an der Geschichte des Nationalsozialismus weiterhin groß ist. Die Frage, wie junge Menschen zeitgemäß erreicht werden können und welche Rolle dabei neue Medien einnehmen können, spielt in der Praxis der Erinnerungsarbeit eine große Rolle. Gryglewsky betont, dass Demokratiebildung nur Erfolg haben könne, wenn Jugendliche auch die Erfahrung von Demokratie machen dürften. Das beginne schon damit, dass man zu Beginn eines Gedenkstättenbesuchs ihre Wünsche und Interessen auf Augenhöhe mit ihnen diskutiere.

Musikalisch begleitet wurde die Jubiläumsfeier vom Trio des Jazz-Gitarristen Elias Prinz.  Beim anschließenden Buffet gab es reichlich Gelegenheit sich auszutauschen. Besonders schön war es für mich, Weggefährten aus den 1980er und 1990er Jahren, der Zeit vor der Errichtung des Hauses wiederzusehen, als die Internationalen Jugendbegegnungszeltlagern stattfanden.

Das Gedächtnisbuch-Team gratuliert dem Max Mannheimer Haus zum 25-jährigen Jubiläum!

(4.12.23; Fotos: Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit; Text: Sabine Gerhardus)

Zeitzeugengespräch mit Abba Naor

Über ein Gespräch mit dem 95-jährigen Holocaust-Überlebenden Abba Naor in Dachau berichtet Marine Charbonneau, derzeit Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste im Gedächtnisbuch-Projekt.

Marine Charbonneau und Abba Naor

Montag, der 20. November, war für mich sehr emotional. Ich ging zum Ludwig-Thoma-Haus in Dachau. Hier hatte ich die Chance, den mutigen Abba Naor – 95 Jahre alt und Überlebender des Holocausts – zu hören. Für anderthalb Stunden haben wir seine berührende Geschichte gehört. Er war nur 13 Jahre alt, als der Krieg in sein Land – Litauen – kam. Ich war sehr berührt von seinem Mut, als er uns über seine Zeit im KZ Stutthof bei Danzig erzählte.

Am Ende konnten wir ihm Fragen stellen und es war für mich die Gelegenheit, ihn zu fragen: „Wo haben Sie den Mut gefunden, Ihre Geschichte mit uns zu teilen?“ Abba Naor hat mir geantwortet, dass „wir“ ihm den Mut gegeben haben.

Ich denke, dass ich mich mein ganzes Leben an diese Treffen erinnern werde. Er war sehr nett und ich war sehr davon berührt, dass er so offen war und sich für unsere Fragen die Zeit genommen hat. Ein echter Austausch.

 

Version française

Le lundi 20 novembre était pour moi très émouvant. Je me suis rendue à la Ludwig-Thoma-Haus à Dachau. Ici, j’ai eu la chance de pouvoir écouter le courageux Abba Naor, 95 ans et survivant de l’Holocauste. Pendant environ une heure et demie, nous avons écouté son histoire bouleversante. Il avait seulement treize ans lorsque la guerre est arrivée dans son pays, la Lituanie. J’ai été touchée de son courage car il nous a parlé de son temps dans le camp de Stutthof à Danzig.

A la fin nous avons pu lui poser des questions et c’était pour moi l’occasion de lui demander « Où trouvez-vous le courage de nous raconter votre histoire aujourd’hui?»  Abba Naor m’a répondu que c’était nous qui lui donnions le courage.

Je pense que je me souviendrais toute ma vie de cette rencontre. Il était très gentil et j’ai aussi été touchée qu’il soit si ouvert et qu’il prenne du temps pour nos questions. Un vrai échange.

(22.11.23; Marine Charbonneau/IS)

Gedenkfeier in Dachau

Am 8. November 2023 wurde in Dachau bei einer Gedenkfeier an die von den Nazis vertriebenen und verfolgten jüdischen Familien gedacht. Bei dieser Gelegenheit unterzeichneten die Nachkommen von Vera Neumeyer das ihr gewidmete Gedächtnisblatt.

V.l.n.r.: Nic, Stephen und Tim Locke, die Söhne von Ruth Locke (geb. Neumeyer), und Toby Newland, der Sohn von Raimund Newland (geb. Neumeyer)

Am 8. November, dem 85. Jahrestag der Vertreibung von Vera, Ruth und Raimund Neumeyer aus Dachau, waren die vier Enkel von Vera Neumeyer auf Einladung der Stadt Dachau zu einer Gedenkfeier eingeladen. Die Gedenkfeier fand am Abend im Ludwig-Thoma-Haus statt.

In einer bewegenden Podiumsdiskussion sprachen die Nachkommen von drei ehemaligen Dachauer Familien, Jaffé, Wallach und Neumeyer, über ihre verfolgten Eltern, Groß- und Urgroßeltern und auch darüber, wie sie selbst mit dem Erbe dieser schweren Erinnerungen leben.

Das Gespräch wurde mit viel Empathie von dem Dachauer Psychotherapeuten Jürgen Müller-Hohagen moderiert, der sich aber an diesem Abend „in erster Linie als Nachbar“ sah: Er und seine Frau Ingeborg leben neben dem ehemaligen Wohnhaus der Neumeyers. Beide halten seit Jahren Kontakt zu den Nachkommen der aus Dachau Vertriebenen und kümmerten sich in den drei Tagen ihres Besuchs in Dachau um die Gäste.

Dieses persönliche freundschaftliche Verhältnis und Müller-Hohagens Expertise mit den über Generationen wirkenden Folgen von verfolgungsbedingten Traumata schafften eine Atmosphäre, in denen die Nachkommen auch über schmerzhafte Erinnerungen sprechen konnten. Es war ein ganz besonderer Abend, der deutlich machte, dass die Erinnerungsarbeit nichts von ihrer Notwendigkeit und Aktualität verloren hat.

Das Foto zeigt Vera Neumeyers Nachkommen beim Unterzeichnen des Gedächtnisblatts. Das Gedächtnisblatt erzählt die Geschichte der Lehrerin für Dalcroze-Eurythmie, die von den Nationalsozialisten 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz oder ins Warschauer Ghetto deportiert und ermordet wurde, weil sie von ihnen als Jüdin angesehen wurde. Sie war gläubige evangelische Christin. Aber sie hatte einen jüdischen Vater und war mit dem jüdischen Musiklehrer Hans Neumeyer verheiratet, der ebenfalls ermordet wurde. Ihre beiden Kinder Ruth und Raimund konnten mit einem Kindertransport nach England gerettet werden.

Das Gedächtnisblatt entstand im Rahmen des „Projekts Erinnern“ des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) und der Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau.

(16.11.23; Foto: Marine Charbonneau; Text: Sabine Gerhardus)