Vorurteile lassen sich am besten überwinden, wenn man sich mit einzelnen Biografien beschäftigt
Die Studentin Karla Steeb arbeitet als Freiwillige im Gedächtnisbuch und in der Versöhnungskirche. Einen inhaltlichen Schwerpunkt legt sie auf die Häftlingsgruppen der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“. Im Interview erzählt sie davon.
Bei deiner Freiwilligentätigkeit in Dachau legst du einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die Gruppen derjenigen KZ-Häftlinge, die die Nazis als Asoziale und Berufsverbrecher bezeichnet haben. Wieso hast du diesen Schwerpunkt gesetzt?
Ich habe das erste Mal von dem Thema erfahren, als ich als Teilnehmerin der Internationalen Jugendbegegnung 2020 einen Workshop besucht habe. Dabei wurde auch das Buch „Du hattest es besser als Ich“ besprochen. Ich wusste anfangs nicht viel zu dem Thema und wollte mehr wissen. Da ich meinen Blog über meine Zeit in Dachau begonnen hatte und vor allem den Menschen, die mich unterstützt haben, Themen näher bringen wollte, zu denen sie vorher keinen Zugang hatten, wollte ich dazu einen Blogartikel schreiben. Aus der Idee hat sich das Interview mit Frank Nonnenmacher, dem Autor des Buches, ergeben. Daraus ist das entstanden. Das Thema ist immer noch sehr wichtig für mich, weil ich das Gefühl habe, dass es in der Erinnerungskultur häufig vergessen wird.
Was für Menschen haben denn diese Bezeichnungen „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bekommen?
Die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ waren Gruppen, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Bei Häftlingsbezeichnungen handelt es sich immer um Fremdbezeichnungen der SS, aber bei den „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ wird das besonders deutlich, da es sich um besonders negative Begriffe handelt.
Als „asozial“ wurden hauptsächlich Menschen bezeichnet, die in den Augen des NS-Regimes nicht Teil der „Volksgemeinschaft“ sein sollten. Darunter waren sogenannte „Arbeitsscheue“, aber auch Menschen ohne festen Wohnsitz, Alkoholkranke, Prostituierte oder professionelle Tänzer. Da es sich bei der Gruppe der „Asozialen“ um einen Sammelbegriff der SS handelt, lässt sich nicht genau eingrenzen, wer darunter fällt. Im Prinzip waren das alles Menschen, die dem Regime nicht gepasst haben und nicht unter eine andere Gruppe fielen.
Die sogenannten „Berufsverbrecher“ waren häufig wirtschaftlich schlechter gestellte Menschen, die aus Armut heraus Lebensmittel oder andere Güter gestohlen hatten und deshalb mehrfach vorbestraft waren. Die Kategorie „Berufsverbrecher“ unterstellt ihnen, dass ihre Kriminalität genetisch veranlagt ist und sie deshalb nicht in Freiheit leben können. Viele der Menschen, die als „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager kamen, hatten ihre Strafen bereits vollständig abgesessen und wurden daraufhin ohne Verfahren oder Gerichtsurteil erneut verhaftet und in Konzentrationslager gebracht.
Du hast ja bereits erwähnt, dass du ein Interview zum Thema geführt hast und in deinem Blog darüber schreibst. Wie hast du dich noch mit dem Thema befasst?
Über die Arbeit mit meinem Blog bin ich auch dazu gekommen, mich mit den aktuellen Geschehnissen und dem Bundestagsbeschluss im Februar 2020 zu beschäftigen. Ansonsten habe ich für den Youtube-Kanal der Versöhnungskirche drei kurze Infovideos zu dem Thema gemacht, die eine Einführung in das Thema sein sollen. Dieses Jahr bin ich auch selbst Teamerin bei I_Remember 2021, wo ich unter anderem mit Jana Detscher, die letztes Jahr den Workshop zu dem Thema gestaltet hat, einen Workshop mitgestalten werde.
Was von dem, was du erfahren hast, findest du besonders erwähnenswert?
Ich denke, was wir uns bewusst machen müssen, ist, dass es in der Erinnerungskultur lange Zeit eine Häftlingshierarchie gab beziehungsweise gibt. Während politische Häftlinge vergleichsweise einfach Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes bekommen konnten und an sie auch relativ früh Entschädigungssummen gezahlt wurden, mussten viele andere Häftlingsgruppen lange darum kämpfen. Die Bezeichnung „Asozialer“ oder „Berufsverbecher“ hat es diesen ehemaligen Häftlingen besonders erschwert, für Anerkennung zu kämpfen, da es auch nach 1945 und bis heute in unserer Gesellschaft tief verankerte Vorurteile gab und gibt. Sogenannten „Berufsverbrechern“ wurde und wird vorgeworfen, dass sie als Kriminelle ja zu Recht im KZ waren und als „Asozialer“ bezeichnet zu werden, ist heute noch ein Schimpfwort. Ich denke, es ist wichtig zu erkennen, dass alle Menschen zu Unrecht im KZ waren und es nicht unsere Aufgabe ist, herauszufinden, wer am meisten gelitten hat, sondern allen gleichermaßen zu gedenken.
Womit sollte sich die Öffentlichkeit unbedingt beschäftigen?
Ich denke, was das Beispiel der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ zeigt, ist, dass Erinnerungskultur vielschichtig ist. Und dass es wichtig ist, hinter die Begriffe der SS zu schauen. Vorurteile gegenüber diesen Gruppen lassen sich am besten überwinden, wenn man sich mit den einzelnen Biografien der ehemaligen Häftlinge beschäftigt. Aber das gilt nicht nur für diese beiden Gruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“, sondern eigentlich für alle. Es ist wichtig zu erkennen, dass man den einzelnen Schicksalen nicht gerecht wird, wenn man sich nur mit diesen Zuschreibungen und Überbegriffen beschäftigt. Meiner Meinung nach sollte sich die Öffentlichkeit deshalb vor allem mit den Biografien der ehemaligen Häftlinge beschäftigen oder sogar diese biografische Arbeit unterstützen, ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt „Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ-Dachau“.
Link zum Youtube-Kanal der Versöhnungskirche
(23.4.21; IS)