Überlebende KZ-Häftlinge: Krankheit, Abwertung und Unverständnis
Sabine Gerhardus und Jürgen Müller-Hohagen berichteten am 27. November 2018 in der Versöhnungskirche über die gesundheitlichen Folgen, mit denen überlebende Dachau-Häftlinge zu kämpfen hatten und haben. Die Mehrheitsgesellschaft reagierte jahrzehntelang mit Unverständnis und Abwertung.
Im Rahmen von Geschichtswerkstatt und Gedächtnisbuch wertete Sabine Gerhardus Akten des Gesundheitsamts Dachau aus. Die Ergebnisse stellte sie in ihrem Vortrag vor.
Überlebende Häftlinge, die Entschädigung für die gesundheitlichen Folgen der KZ-Haft beantragen wollten, mussten anhand der Einschätzung eines amtsärztlichen Gutachters belegen, dass sie aufgrund der Gesundheitsschäden nicht mehr voll erwerbsfähig waren und die Erwerbsminderung ausschließlich aufgrund der KZ-Haft eingetreten war. Die Gutachten belegen, dass psychische Krankheiten grundsätzlich als „anlagebedingt“ angesehen wurden und daher nicht zu einer Entschädigung berechtigten.
Die Mehrheit der deutschen Ärzte war der Überzeugung, dass eine gesunde Psyche jede noch so schwere Erschütterung nach einiger Zeit folgenlos kompensieren kann. Im Umkehrschluss bedeutete das, jede dauerhafte psychische Beeinträchtigung musste zwangsläufig anlagebedingt sein. Erst seit 1996 gilt die posttraumatische Belastungsstörung in Deutschland als Krankheitsbild.
Anhand vieler Einzelbeispiele stellte Sabine Gerhardus den schlechten Gesundheitszustand der KZ-Überlebenden dar und den entwürdigenden Kampf um Entschädigung, den sie häufig in großer materieller Not führten.
Im zweiten Vortrag nahm der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen auf diese Erläuterungen Bezug: „Was soll man noch sagen, nach dem, was wir gerade gehört haben?“ Es sei entsetzlich zu sehen, was den Überlebenden auch nach dem Ende der NS-Zeit noch angetan wurde, nach all dem, was sie während der Verfolgung bereits erleiden mussten.
Jürgen Müller-Hohagen berichtete aus seiner therapeutischen Arbeit, in der er viel mit Nachkommen von NS-Opfern zu tun hat. Scham spiele in vielen Familien eine große Rolle und das bis heute. Die Scham hat ihre Ursache zum großen Teil in der Ablehnung, die den ehemaligen KZ-Häftlingen auch in der Nachkriegszeit noch entgegengebracht wurde. Nicht zuletzt deswegen wurde in vielen Familien geschwiegen.
In der anschließenden Diskussion kamen sowohl Fassungslosigkeit über das Unverständnis gegenüber psychischen Haftfolgen zur Sprache wie auch Erinnerungen an abwertende Äußerungen gegenüber „KZlern“. Daran erinnern sich Angehörige von ehemaligen Häftlingen, aber auch diejenigen, die sich im Rahmen der Jugendarbeit für eine angemessene Erinnerungskultur einsetzten.
(28.11.2018; Foto: Klaus Schultz; Text: Irene Stuiber/Sabine Gerhardus)