Dokumentation: Rede von Romani Rose am 2.5.2015 in Dachau

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Naor, meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

der Name des Konzentrationslagers Dachau steht auch stellvertretend für den Völkermord an den Sinti und Roma. Es handelt sich um ein Staatsverbrechen, das akribisch geplant und ins Werk gesetzt wurde. Der nationalsozialistische Staat sprach den Angehörigen unserer Minderheit auf der Grundlage einer menschenverachtenden Rassenideologie kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren.

Bereits die berüchtigten Nürnberger Gesetze wurden auf direkte Anweisung von Reichsinnenminister Frick auf Sinti und Roma genauso angewandt wie auf Juden. In der Folge wurden die Angehörigen unserer Minderheit systematisch aus allen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt. Im Dezember 1938 forderte Himmler in einem Erlass die (Zitat) „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“. Mitte Mai 1940 begann die SS-Führung mit der Deportation ganzer Familien ins besetzte Polen.

Höhepunkt der Vernichtungspolitik war die Deportation von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und dem besetzten Europa nach Auschwitz-Birkenau, auf der Grundlage eines Himmler-Befehls vom 16. Dezember 1942

Die Gaskammern von Auschwitz, in denen Tausende unserer Menschen einen qualvollen Tod erleiden mussten, sind zum Symbol für ein Verbrechen geworden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.

Das Netz der Konzentrationslager, der Erschießungsstätten und der Massengräber mit den ermordeten Angehörigen unserer Minderheit zieht sich über ganz Europa. Über 500.000 Sinti und Roma fielen der systematischen Vernichtung zum Opfer.

Für diesen Zivilisationsbruch steht auch das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Der Ort, an dem wir heute stehen, ist für uns Sinti und Roma zuallererst ein riesiger Friedhof.

Im Zuge der Massenverhaftungen im Juni 1938 trafen erstmals Sinti und Roma in größerer Zahl im Lager ein, wo sie dem Terror der Bewacher hilflos ausgesetzt waren. Zu den furchtbarsten Kapiteln der Leidensgeschichte unserer Minderheit im KZ Dachau gehören die medizinischen Experimente, die an Sinti- und Roma-Häftlingen durchgeführt wurden. Niemand kann die Qualen ermessen, die sie dabei erleiden mussten.

Es waren die alliierten Soldaten, die dem beispiellosen Morden des NS-Staates unter Einsatz ihres eigenen Lebens Einhalt geboten und die Europa unter großen persönlichen Opfern vom Nationalsozialismus befreit haben. Ihnen gilt unser besonderer Dank.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede unserer Familien war vom nationalsozialistischen Völkermord in existenzieller Weise betroffen. Diese Erfahrung absoluter Rechtlosigkeit hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und unsere Identität als Minderheit geprägt.

In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft hingegen wurde der Völkermord an den Sinti und Roma verdrängt, verharmlost oder gar geleugnet.

Die Beamten aus dem SS- und Polizeiapparat, die den Völkermord ins Werk gesetzt hatten, blieben weiterhin in Amt und Würden. Beispielhaft für diese personelle und ideologische Kontinuität ist Josef Eichberger. Er war im Dritten Reich in der Münchener „Zigeunerzentrale“ mit der systematischen Erfassung der Sinti und Roma befasst.

Am 16. Mai 1938 befahl Himmler als „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ den Umzug der Münchner „Zigeunerzentrale“ – samt ihrer Abertausenden Akten – ins Reichskriminalpolizeiamt nach Berlin. Dort wurde im Oktober 1938 eine eigene „Reichszentrale“ eingerichtet, die die Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma fortan steuerte. Im Folgejahr wurde sie Teil des neu gegründeten Reichssicherheitshauptamtes.

Josef Eichberger gehörte zu den so genannten „Zigeunerspezialisten“, die 1938 von München nach Berlin gingen, um dort den europaweiten Völkermord an den Sinti und Roma zu organisieren.

Nach dem Krieg wurde Eichberger zwar kurzfristig interniert, gelangte aber schon 1949 wieder in den Staatsdienst. Später wurde er Leiter der so genannten „Landfahrerzentrale“ beim Bayerischen Landeskriminalamt in München, wo er unter Weiterverwendung der NS-Akten die rassistische Sondererfassung von Sinti und Roma fortsetzte. Dabei scheute man nicht einmal davor zurück, die in Auschwitz eintätowierten KZ-Nummern als Erkennungsmerkmale zu registrieren.

Die bayerische „Landfahrerzentrale fungierte bald wieder als bundesweite Nachrichtensammelstelle für Sinti und Roma. Ein Ermittlungsverfahren gegen Eichberger und seinen früheren Vorgesetzten im Reichsicherheitshauptamt, SS-Hauptsturmführer Wilhelm Supp, wegen ihrer Verstrickung am Völkermord wurde 1963 eingestellt.

Um die rassenideologischen Motive der NS-Verfolgung zu verschleiern, rechtfertigten die vormaligen Täter die Deportationen von Sinti und Roma in die Vernichtungslager als angeblich „kriminalpräventiv“. Die Kriminalisierung der Opfer war eine entscheidende Vorausaussetzung für die Täter, sich selbst zu entlasten.

Die öffentliche Wahrnehmung unserer Menschen in der Nachkriegszeit war weiterhin von den Zerrbildern der NS-Propaganda geprägt. So heißt es in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956 zur Entschädigung (ich zitiere): „Sie [die Zigeuner] neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung von fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“ (Zitat Ende)

Damit übernahm der BGH die Rechtfertigungsstrategie der Nationalsozialisten und deren demagogische Hetze. Versuchen Sie sich vorzustellen, was es für einen traumatisierten Angehörigen unserer Minderheit, der der Hölle der Konzentrationslager entronnen war, bedeuten musste, einer solch infamen Diffamierung von höchstrichterlicher Stelle ausgesetzt zu sein. Es ist eine wichtige symbolische Geste, dass sich die derzeitige BGH-Präsidentin Bettina Limperg von diesem Urteil kürzlich in aller Klarheit distanziert hat.

Es war die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma, die sich den ehemaligen Tätern entgegengestellt und die personellen wie ideologischen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus öffentlich angeprangert hat.

Eine entscheidende Zäsur war der Hungerstreik hier in der Gedenkstätte Dachau an Ostern 1980, der in den internationalen Medien ein bis dahin ungekanntes Echo fand.

Dass der Völkermord an unserer Minderheit einen eigenen historischen Stellenwert hat, dass unseren Opfern eine eigene Erinnerung und eine eigene Würde zukommt – dafür haben die deutschen Sinti und Roma lange kämpfen müssen. Dass dieser jahrzehntelange Kampf nicht vergebens war, bezeugt das nationale Denkmal für die ermordeten Angehörigen unserer Minderheit beim Berliner Reichstag, das im Oktober 2012 im Beisein von Bundespräsident Gauck und Bundeskanzlerin Merkel der Öffentlichkeit übergeben wurde.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, siebzig Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur kann es ganz gewiss nicht darum gehen, den Nachkommen der Täter irgendeine Form von Schuld aufzubürden. Der Sinn des Erinnerns besteht vielmehr in der gelebten Verantwortung für die Gegenwart und für unser Gemeinwesen.

Minderheiten wie Sinti und Roma, Juden oder Muslime müssen wieder einmal als Sündenböcke für ökonomische Fehlentwicklungen und soziale Verwerfungen herhalten. Rechte Parolen finden bis in die Mitte der Gesellschaft Widerhall. Doch die angebliche Verteidigung des Abendlandes vor Entfremdung ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Infragestellung dessen, was die offene demokratische Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Als politischer Vertreter der deutschen Sinti und Roma möchte ich ganz klar sagen: Rassismus und Populismus bedrohen nicht nur die Rechte von Minderheiten, sondern zielen auf das Herz der Demokratie. Es geht dabei immer um unsere demokratische Kultur und um die Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Wenn – wie kürzlich in Sachsen-Anhalt geschehen – ein Bürgermeister aus Angst vor dem rechten Terror zurücktritt und ein Landrat wegen Morddrohungen von der Polizei geschützt werden muss, wenn Rechtsextreme ganze Landstriche zu Tabuzonen oder so genannten „No-go-Areas“ für Ausländer erklären – dann ist unsere freiheitliche Demokratie in ihrer Substanz bedroht. Dann sind wir alle gefordert, unsere Gesellschaft und die sie tragenden Werte gegen rassistische Gewalt und Menschenverachtung zu verteidigen.

Jeder Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylsuchende und jeder Angriff auf einen Menschen anderer Hautfarbe ist ein Angriff auf unseren Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt.

Rituelle Gesten der Betroffenheit reichen nicht aus. Politik, Justiz und Gesellschaft stehen gleichermaßen in der Pflicht, menschenfeindliches und antidemokratisches Handeln konsequent zu ächten. Doch ebenso wichtig ist es, die sich vielerorts engagierenden Netzwerke gegen rechts auch staatlicherseits zu unterstützen.

Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft müssen wir gemeinsam verteidigen, für diese Werte müssen wir die junge Generation immer wieder neu gewinnen und begeistern.

In diesem Sinne begreife ich das Vermächtnis all derer, die an diesem historischen Ort leiden und sterben mussten.

Ich danke Ihnen.

 

 

 

Gedenkfeier zur Erinnerung an die Todesmärsche: „Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt!“

Für das Gedächtnisbuchprojekt war diese Veranstaltung von besonderer Bedeutung: Zu Abba Naor gibt es eine Biographie im Gedächtnisbuch. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, dessen Vorsitzender Romani Rose ist, hat im Jahr 2008 die Internationale Wanderausstellung des Gedächtnisbuchs gezeigt. Diese Ausstellung zeigt ein Porträt des österreichischen Roma-Angehörigen Karl Wacker Horvath, für den es auch ein Gedächtnisblatt gibt. Andreas Pflock, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationszentrums, hat mit Jugendlichen Biographien für das Gedächtnisbuch erarbeitet, eine davon für den deutschen Sinto Karl Pasquali.

Wir freuen uns, dass wir die Reden von Romani Rose und die Begrüßung des Dachauer Oberbürgermeisters Florian Hartmann im Original dokumentieren dürfen. Sie finden Sie in den nachfolgenden Posts.

 

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, erinnerte an die Ermordung von 500.000 Roma und Sinti, an die Fortführung der rassenideologischen Denkweise der Nationalsozialisten bis weit in die Nachkriegszeit. Er erinnerte auch an den Kampf der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, sprach von Erfolgen auf dem Weg zur Gleichberechtigung, prangerte aber auch Missstände an: „Minderheiten wie Sinti und Roma, Juden oder Muslime müssen wieder einmal als Sündenböcke für ökonomische Fehlentwicklungen und soziale Verwerfungen herhalten. Rechte Parolen finden bis in die Mitte der Gesellschaft Widerhall.“

Rassismus und Populismus bedrohten nicht nur die Rechte von Minderheiten, sondern zielten auf das Herz der Demokratie, so Rose. „Jeder Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylsuchende und jeder Angriff auf einen Menschen anderer Hautfarbe ist ein Angriff auf unseren Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt.“

Rose rief Politik, Justiz und Gesellschaft dazu auf, rassistisches und menschenfeindliches Handel konsequent zu ächten und antirassistische Netzwerke zu unterstützen.

Sein Appell: „Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft müssen wir gemeinsam verteidigen, für diese Werte müssen wir die junge Generation immer wieder neu gewinnen und begeistern.“

Im Anschluss an Romani Rose sprach der Überlebende des KZ Dachau, Abba Naor, der am 26. April 1945 als siebzehnjähriger auf den Todesmarsch geschickt wurde. Abba Naor hielt eine kurze Ansprache im Namen der anwesenden Zeitzeugen: „Wir brauchen uns nicht erinnern, weil wir nicht vergessen haben. Wir waren dabei.“ Seit 2006 ist Abba Naors Lebensgeschichte im Gedächtnisbuch nachzulesen. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers ist er mit zwei seiner acht Urenkel angereist.

Aus den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge zitierten Schüler und Schülerinnen des Josef-Effner-Gymnasiums. Die Veranstaltung wurde musikalisch von der Familie Huber-Ewald und vom Chor „Valentin Polanšek“ aus Slowenien begleitet. Der Chor wurde von dem Überlebenden des KZ Dachau, Valentin Polanšek, gegründet und steht bis heute in der Tradition des slowenischen Chores im KZ Dachau.

 (Text und Fotos von Sabine Gerhardus)