Ludwig Schmidinger im Gespräch mit Erwin Schild (6.11.14, Foto Hedi Bäuml)

Erwin Schild in Dachau: eine Stimme des Friedens

Anlass für diesen Beitrag gab die Gedenkveranstaltung mit Rabbi Erwin Schild zur Reichspogromnacht in Dachau am 6.11.2014 im Rathaus. Eingeladen hatten der Trägerkreis Reichpogromnacht (Evangelische Versöhnungskirche in der KZ Gedenkstätte Dachau, Dachauer Forum e.V., Katholische Seelsorge an der KZ Gedenkstätte Dachau, Kulturamt der Stadt Dachau, KZ Gedenkstätte Dachau, Verein „Zum Beispiel Dachau“). Erwin Schild ist im Gedächtnisbuchprojekt kein Unbekannter: Ein Gedächtnisblatt über sein Leben wurde 2005 erstellt, ein Banner zu seiner Biographie gibt es in der Ausstellung „Geistliche im KZ Dachau“ und in der englischen Version der Internationalen Wanderausstellung „Namen statt Nummern“. Den nachfolgenden Text schrieb Sabine Gerhardus.

Baut Brücken statt Mauern! Mauern trennen, grenzen aus, schotten ab, und sie hindern Flüchtlinge davor, den rettenden Zufluchtsort zu erreichen. Die Erfahrung der Monate dauernden Flucht vor den Nazis, die Angst, an der Grenze wieder zurück geschickt zu werden und den Mördern endgültig ausgeliefert zu sein, hat Erwin Schild tief geprägt. Er war Student der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg, ein paar Monate nur, in denen er eine enge Bindung an die jüdische Kultur erfuhr und sein Glaube an Kraft und Reichtum gewann – bevor im November 1938 ein Inferno über sein Leben hereinbrach. In den Schlafsälen wurden die jungen Studenten von Nazischergen überfallen, sie zerschlugen Fenster, zerstörten die Betten, Koffer, alle Habseligkeiten und ließen die Jungen verängstigt und verloren zurück – am nächsten Morgen fanden sie ihr Seminar besetzt, die Bücher in Flammen und die Stadt in der Hand eines brutalen Mobs. Schließlich wurden sie ins Gefängnis und dann ins KZ Dachau gebracht. Dass Erwin Schild dieses Pogrom überleben würde, schien kaum möglich.

Am 6. November 2014 erzählt Erwin Schild, inzwischen 94 Jahre alt, im Rathaus der Stadt Dachau von seinen Erinnerungen. Er berichtet von den schlimmsten Stunden seines Lebens, als er seinen Vater in Dachau traf, in einem Moment, als dieser von dem Gruppenältesten gestoßen wurde. Aber geprägt ist seine Erzählung von einer ganz anderen Kraft – von der Kraft seines Glaubens an einen Gott der Versöhnung, der keinen Unterschied macht zwischen den Menschen. Jeder Flüchtling hat das Recht Zuflucht zu finden – bei jedem von uns. Statt Mauern sollen wir Brücken bauen. Das sind keine hohlen Worte, es ist ein lebendiger, ein kraftvoller Appell: Wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben, dass die Menschheit doch lernen kann, sich vom Hass abzuwenden, jeder von uns kann dazu beitragen, statt Mauern Brücken bauen und helfen, einen Weg des Zusammenlebens zu finden.

Erwin Schild ist nicht umsonst Rabbiner geworden, ein Lehrender, der sich seit Jahren schon für den jüdisch-christlichen auch den jüdisch-deutschen Dialog einsetzt. Seine Offenheit reicht weit über die christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften hinaus. „Keine Gruppe, keine Religion  hat eine exklusive Verbindung mit dem Herrn der Welt.“ (Aus Erwin Schilds Rede vor evangelischen Christen am Reformationstag 1988 in seiner Heimatstadt Köln: Die Welt durch mein Fenster. Einsichten und Wegweisung eines kanadischen Rabbiners deutscher Herkunft für das Leben in unserer Zeit, Köln 1996.) Auch in der Begegnung in Dachau spürt man seinen Appell, den Menschen in Liebe, Güte zu begegnen, Mitleid, Demut und Opfergeist zu zeigen, den Dialog zu suchen – eben, Brücken zu bauen.

Einen Weg in eine friedliche Welt können wir finden, wenn wir „Verantwortung für unsere Umwelt annehmen, unser Brot mit den Hungrigen teilen, ein verschmachtendes Kind als eine unerträgliche Blasphemie unseres göttlichen Ebenbildes empfinden.“ (Die Welt durch mein Fenster, Köln 1996) Erwin Schilds Appell an die Menschlichkeit hat bis heute – leider – nichts von seiner Dringlichkeit verloren. In einer Zeit, in der wir von Nachrichten über Terror, Hass und Rassismus überflutet werden, könnte man verzweifeln angesichts dessen, was Menschen einander antun.  Es tut gut, zu sehen, welche innere Ruhe und versöhnliche Kraft Erwin Schild ausstrahlt. Mit seiner Aufmerksamkeit und seinem großen Herzen verzaubert er die Zuhörer in Dachau. Möge er die Menschen noch lange erreichen und sie mit seiner Güte anstecken. Eine Stimme des Friedens, leise, aber kraftvoll genug um Hoffnung und Mut zum Handeln zu machen. Stimmen wie Deine brauchen wir sehr, lieber Erwin – ich danke Dir!

Erwin und Laura Schild in Ottawa 2012

Auf den Spuren Nico Rosts

Ende Oktober war Karen Tessel, Kuratorin des Amsterdamer Widerstandsmuseums, in Dachau. Sie berichtet:
 
21. Oktober 2014
 

Wir essen im Hotel Fischer zu Mittag: Jos Sinnema, Sabine Gerhardus, Andreas Kreutzkam und ich. Jos und ich sind drei Tage in der Gedenkstätte für Recherchearbeit.  Zusammen arbeiten wir am Projekt Geen nummers maar namen – Namen statt Nummern. Jos begleitet Schüler, die für ihre Facharbeit und im Rahmen des Projektes Gedächtnisbuch Biographien über Holländer schreiben, die im KZ Dachau waren. Diese Biographien sind die Grundlage für eine Ausstellung im Amsterdamer Widerstandsmuseum, die Ende April 2015 eröffnet wird. In dieser Ausstellung möchte ich persönliche Objekte, Fotos und Dokumente von holländischen politischen Häftlingen zeigen und ihre Lebensgeschichte erzählen.

Sabine und Andreas vertreten das Projekt Gedächtnisbuch. Es ist schön, sie kennenzulernen. Auch die Mitarbeiter der Gedenkstätte  treffe ich zum ersten Mal und das Treffen ist auch gut und angenehm.

Sabine zeigt uns eine Kopie. Es ist die Titelseite eines Buches Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Es steht ein Stempel drauf: ‘Lager Bücherei’. Beim Antiquar Cornelius Wittmann in der Altstadt hat Sabine dieses Buch in den Händen gehabt. Ist es wirklich ein Buch, das in der Häftlingsbibliothek im KZ Dachau gewesen ist? Das wäre etwas Besonderes. Ich erwäge, in der Ausstellung an Nico Rost zu erinnern. In seinem Buch Goethe in Dachau hat Rost eindrucksvoll über seine Erfahrung im Lager geschrieben. Er schrieb auch über die Lagerbibliothek, und erzählt, wie Freundschaft und Literatur ihm Unterstützung und Trost boten. Ein Buch aus der Lagerbibliothek könnte seine Geschichte in der Ausstellung sehr schön unterstützen.

Später am Tag überprüfen wir, ob Rost auch etwas über Rilke geschrieben hat. Das hat er tatsächlich! Auf Seite 241 lesen wir:

„25. Februar 1945

 Rheinhardt ist heute Nacht gestorben.  […]
Als ich soeben das Bändchen Rilke zur Hand nahm, das ich mir vor einigen Monaten von Rheinhardt geborgt habe, stieß ich auf eine Zeile, die er mit Bleistift unterstrichen hat:  ‚Wirsterben alle unseren eigenen Tod!‘
Ob er bei diesen Worten geahnt hat, dass er hier sterben würde? “

Zwei Tage später notierte Nico Rost:

 „27. Februar 1945
Um nicht dauernd nur an die Toten und die Sterbenden denken zu müssen und um meine Gedanken zu etwas anderem zu zwingen, habe ich einige Gedichte von Rilke aus seinen Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus gelesen.“

(Aus: Nico Rost: Goethe in Dachau. Ein Tagebuch, Übersetzung aus dem Niederländischen,  München 2001.)

 Rost hat also nicht nur über Rilke geschrieben, sondern tatsächlich genau über dieses Buch, die Duineser Elegien! Ob das Buch, das Antiquar Cornelius Wittmann im Besitz hat, vielleicht sogar dasselbe Exemplar
ist? Also das mit den von Rheinhardt mit Bleistift unterstrichenen Sätzen? Das wäre großartig für die Ausstellung!
 
22. Oktober 2014
Albert Knoll, Archivar in der Gedenkstätte schaut sich die Kopie der Titelseite an und bestätigt, dass
es sich um ein Buch aus der Lagerbücherei handelt.

Am Nachmittag gehen wir erwartungsvoll zu Wittmann. Er holt einige Bücher hervor, alle aus der Lagerbücherei.  Ein braunes, in Leder

gebundenes Exemplar trägt den Titel Duineser
Elegien
. Jos schlägt das Buch auf. Da ist der Stempel. Fieberhaft blättert er hindurch, auf der Suche nach den Bleistiftstreifen von Rheinhardt. Aber leider… wir finden diese nicht.
Wir verabschieden uns mit vielen Fragen im Kopf. Woher hatte Rheinhardt sein Buch? Wie hat er es bei
sich halten können? Hat Rost es nach der Befreiung vielleicht mit nach Hause genommen? Und wo könnte es sich dann jetzt befinden? Vielleicht in der Universitätsbibliothek in Leiden, wo Rosts Literatur-Nachlass aufbewahrt wird. Da muss ich schnell hin, sobald ich wieder zuhause bin!