Stationenweg 70. Jahrestag des Todesmarsches

Evangelische Versöhnungskirche und Katholische Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte veranstalteten am 26. April den Stationenweg am 70. Jahrestag des Todesmarsches aus dem KZ Dachau. Zu den Mitveranstaltern gehörte das Dachauer Forum. Alle drei Organisationen sind Trägern des Gedächtnisbuchs. Zum Auftakt in der Versöhnungskirche sprach neben anderen Rednern Max Mannheimer.
Unser Foto zeigt die Station „Nie wieder Rassismus!“. Jutta Neupert vom Arbeitskreis Asyl berichtete über die elende Situation der in Deutschland und speziell der in Dachau lebenden Flüchtlinge. Sie formulierte eine eindrückliche Forderung an die Politik: Schafft endlich Unterkünfte in Dachau mit Sozialwohnungsniveau.

Ludwig Schmidinger im Gespräch mit Erwin Schild (6.11.14, Foto Hedi Bäuml)

Erwin Schild in Dachau: eine Stimme des Friedens

Anlass für diesen Beitrag gab die Gedenkveranstaltung mit Rabbi Erwin Schild zur Reichspogromnacht in Dachau am 6.11.2014 im Rathaus. Eingeladen hatten der Trägerkreis Reichpogromnacht (Evangelische Versöhnungskirche in der KZ Gedenkstätte Dachau, Dachauer Forum e.V., Katholische Seelsorge an der KZ Gedenkstätte Dachau, Kulturamt der Stadt Dachau, KZ Gedenkstätte Dachau, Verein „Zum Beispiel Dachau“). Erwin Schild ist im Gedächtnisbuchprojekt kein Unbekannter: Ein Gedächtnisblatt über sein Leben wurde 2005 erstellt, ein Banner zu seiner Biographie gibt es in der Ausstellung „Geistliche im KZ Dachau“ und in der englischen Version der Internationalen Wanderausstellung „Namen statt Nummern“. Den nachfolgenden Text schrieb Sabine Gerhardus.

Baut Brücken statt Mauern! Mauern trennen, grenzen aus, schotten ab, und sie hindern Flüchtlinge davor, den rettenden Zufluchtsort zu erreichen. Die Erfahrung der Monate dauernden Flucht vor den Nazis, die Angst, an der Grenze wieder zurück geschickt zu werden und den Mördern endgültig ausgeliefert zu sein, hat Erwin Schild tief geprägt. Er war Student der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg, ein paar Monate nur, in denen er eine enge Bindung an die jüdische Kultur erfuhr und sein Glaube an Kraft und Reichtum gewann – bevor im November 1938 ein Inferno über sein Leben hereinbrach. In den Schlafsälen wurden die jungen Studenten von Nazischergen überfallen, sie zerschlugen Fenster, zerstörten die Betten, Koffer, alle Habseligkeiten und ließen die Jungen verängstigt und verloren zurück – am nächsten Morgen fanden sie ihr Seminar besetzt, die Bücher in Flammen und die Stadt in der Hand eines brutalen Mobs. Schließlich wurden sie ins Gefängnis und dann ins KZ Dachau gebracht. Dass Erwin Schild dieses Pogrom überleben würde, schien kaum möglich.

Am 6. November 2014 erzählt Erwin Schild, inzwischen 94 Jahre alt, im Rathaus der Stadt Dachau von seinen Erinnerungen. Er berichtet von den schlimmsten Stunden seines Lebens, als er seinen Vater in Dachau traf, in einem Moment, als dieser von dem Gruppenältesten gestoßen wurde. Aber geprägt ist seine Erzählung von einer ganz anderen Kraft – von der Kraft seines Glaubens an einen Gott der Versöhnung, der keinen Unterschied macht zwischen den Menschen. Jeder Flüchtling hat das Recht Zuflucht zu finden – bei jedem von uns. Statt Mauern sollen wir Brücken bauen. Das sind keine hohlen Worte, es ist ein lebendiger, ein kraftvoller Appell: Wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben, dass die Menschheit doch lernen kann, sich vom Hass abzuwenden, jeder von uns kann dazu beitragen, statt Mauern Brücken bauen und helfen, einen Weg des Zusammenlebens zu finden.

Erwin Schild ist nicht umsonst Rabbiner geworden, ein Lehrender, der sich seit Jahren schon für den jüdisch-christlichen auch den jüdisch-deutschen Dialog einsetzt. Seine Offenheit reicht weit über die christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften hinaus. „Keine Gruppe, keine Religion  hat eine exklusive Verbindung mit dem Herrn der Welt.“ (Aus Erwin Schilds Rede vor evangelischen Christen am Reformationstag 1988 in seiner Heimatstadt Köln: Die Welt durch mein Fenster. Einsichten und Wegweisung eines kanadischen Rabbiners deutscher Herkunft für das Leben in unserer Zeit, Köln 1996.) Auch in der Begegnung in Dachau spürt man seinen Appell, den Menschen in Liebe, Güte zu begegnen, Mitleid, Demut und Opfergeist zu zeigen, den Dialog zu suchen – eben, Brücken zu bauen.

Einen Weg in eine friedliche Welt können wir finden, wenn wir „Verantwortung für unsere Umwelt annehmen, unser Brot mit den Hungrigen teilen, ein verschmachtendes Kind als eine unerträgliche Blasphemie unseres göttlichen Ebenbildes empfinden.“ (Die Welt durch mein Fenster, Köln 1996) Erwin Schilds Appell an die Menschlichkeit hat bis heute – leider – nichts von seiner Dringlichkeit verloren. In einer Zeit, in der wir von Nachrichten über Terror, Hass und Rassismus überflutet werden, könnte man verzweifeln angesichts dessen, was Menschen einander antun.  Es tut gut, zu sehen, welche innere Ruhe und versöhnliche Kraft Erwin Schild ausstrahlt. Mit seiner Aufmerksamkeit und seinem großen Herzen verzaubert er die Zuhörer in Dachau. Möge er die Menschen noch lange erreichen und sie mit seiner Güte anstecken. Eine Stimme des Friedens, leise, aber kraftvoll genug um Hoffnung und Mut zum Handeln zu machen. Stimmen wie Deine brauchen wir sehr, lieber Erwin – ich danke Dir!

Erwin und Laura Schild in Ottawa 2012

Aufruf Trägerkreis: Zur Lage in der Ukraine

Wir, Mitarbeiter und Mitglieder im Trägerkreis des Gedächtnisbuchs für die Häftlinge des KZ Dachau, sind in tiefer Sorge um den Frieden in der Ukraine, in Russland, in Europa.
Mit größter Bestürzung beobachten wir die nicht enden wollenden Nachrichten über die vielen Verletzten und Toten auf beiden Seiten des Konfliktes. Unsere Gedanken sind mit den Angehörigen, ihrer Sorge und Trauer. Und mit unseren Freunden und Partnern aus gemeinsamen Projektzeiten, die mit größter Sorge in die Zukunft sehen. Wir möchten unsere Solidarität mit allen bekunden, die sich um eine friedliche Lösung der Konflikte und um den Dialog bemühen.
Aus unserer Arbeit mit Überlebenden der Konzentrationslager wissen wir um die schrecklichen Folgen von Krieg und Terror: Durch die Erfahrungen von Gewalt, Ohnmacht und Leid werden die Betroffenen bis ins hohe Alter in traumatischer Weise durch Albträume, physische und psychische Qualen verfolgt; oft setzt sich dies bis in die zweite und dritte Generation fort.
Auch tausende ukrainische und russische Deportierte haben im Konzentrationslager Dachau gelitten – bis heute ist deren Leid nicht überwunden und schon wieder droht den Angehörigen der beiden Völker ein neuer Krieg!? Besonders fürchten wir die Sogwirkung der Gewalt: je tiefer und zahlreicher die Verletzungen, umso stärker die Aggressionen bis hin zu Hass und Rache.
Die Spirale der Gewalt muss beendet werden, alle Anstrengungen für neue Wege der Verständigung müssen unternommen werden!
Aber wie? „Was können wir schon tun?“ Stark spüren auch wir diesen Impuls, im Schrecken zu erstarren und unsere Ohren vor den schlimmen Nachrichten zu verschließen! Doch wollen wir uns wirklich einmal vorwerfen müssen, dass wir nicht einmal versucht haben, unsere Stimme zu erheben?
Es gibt doch Wege aus der Spirale der Gewalt! Wir glauben, dass der erste Schritt sein muss, sich bewusst zu machen:  „Der Feind“ ist nicht „der Russe“ oder „der Westukrainer“ oder „die Separatisten“, nicht einmal „die Faschisten“ – alle diese Begriffe werden ohnehin von jedem anders verstanden, und beziehen sich meist auf Menschen, die wir nicht kennen, deren Beweggründe wir meist nicht verstehen, weil es keinen Dialog mit ihnen (mehr) gibt.
„Der Feind“ ist ganz woanders zu finden: in der Gewaltanwendung an sich. Das heißt, dass wir alle Bestrebungen unterstützen wollen, die Wege aus der Gewalt suchen.
Ideologien wie der Nationalismus führen häufig dazu, die Anwendung von Gewalt zu fördern. Menschen werden schnell eingeteilt in „die unseren“ und „die anderen“ – ein Versuch, zuzuhören kommt gar nicht erst zustande. Häufig wird zudem der Vorwurf, nationalistisch zu sein, wechselseitig gegeneinander erhoben.
Tatsächlich sucht die Politik nach Wegen zu einer diplomatischen Lösung. Dafür müssen jedoch die Kontrahenten eines Konflikts zum echten Dialog bereit sein. Es gilt also, wo immer möglich, die Dialogfähigkeit wieder zu stärken. Hier glauben wir, dass es zahlreiche Möglichkeiten auch für „normale“ Bürger gibt, einen Beitrag zu leisten:
Wir fordern alle Seiten auf:
—     HÖREN: Was haben Menschen an Schmerz und Leid erfahren? Welche konkreten Situationen haben sie erlebt und was haben sie dabei persönlich empfunden? Das alles muss gehört werden und darf nicht in Frage gestellt, kommentiert oder gar angegriffen werden.
—   ANERKENNEN: Wenn es um das Erleben und Erinnern geht (z.B. um das Erleben von Unterdrückung, Stigmatisierung), gibt es immer so viele verschiedene Wahrheiten, wie Menschen beteiligt waren, und nicht nur „die eine Wahrheit“.
—    UNTERLASSEN: Die Suche nach dem „Schuldigen“ oder dem, der den „ersten Schlag“ oder das schlimmere Unrecht begangen hat; das führt nicht zu einem guten Ziel, meistens führt es zu gegenseitigen Anklagen und dazu, dass Kontrahenten den Dialog abbrechen, streiten oder aggressiv werden.

 

—   SPRECHEN: Alle Beteiligten sollen sich äußern:
Was sind ihre konkreten Ängste oder Befürchtungen?
Welche Situationen beeinträchtigen sie?
Was ist ihnen besonders wichtig, welche Erwartungen, Wünsche oder Ziele haben sie?
Alle Beteiligten sollen zuhören und zugestehen, welche Sorgen und Wünsche die anderen äußern!
Das erfordert einerseits Zeit und Geduld, andererseits trägt es dazu bei, dass wirkliches Verstehen gelingen kann, dass negative Gefühle abgebaut und Vertrauen aufgebaut werden kann.
Auf diese Weise wird es möglich, gemeinsam herauszufinden:
— wie die größten Befürchtungen für alle Seiten beruhigt werden können und
— wie man sich an die wichtigsten Bedürfnisse von allen Seiten annähern kann.
 Hilfreich und notwendig ist, dass diese Art von Dialogfähigkeit auch von denen geübt wird, die am Rande beteiligt sind (deren Interessen in den Konflikt hineinspielen).
  Die Anbahnung solcher Dialoge braucht Vermittler (Mediatoren), die von beiden Seiten akzeptiert sind.
Wir sind überzeugt:
— Dass die Dialogfähigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen geübt werden sollte.

— Dass es hilfreich ist, wenn an vielen Stellen in Ost und West, wo Kontrahenten des „Ukraine-Konflikts“   aufeinanderprallen, ein echter Dialog gesucht und gefördert wird.

—  Dass jeder und jede dazu beitragen kann, dass Gewaltexzesse im Vorfeld vermieden werden können, indem er oder sie dazu beiträgt, in kleinen Gruppen eine Gesprächskultur zu schaffen, die dazu führt, dass die Beteiligten sich anhören.
—  Wir können uns vorstellen, dass z.B. kirchliche, gesellschaftliche Institutionen, Bildungseinrichtungen und viele andere, an ihrem Ort dazu beitragen können, dass auch Minderheiten sich trauen, Ihre Gedanken zu äußern, dass Minderheiten und Mehrheiten zuhören lernen und bereit zum Dialog werden.
Wir laden ein:
—  ALLE: Bringen Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz, in Ihrer Familie, in Ihrer Nachbarschaft, bei Ihren Freunden mit dem Wunsch nach Dialog und der Abwendung von Gewalt ein!
Berichten Sie uns über positive Erfahrungen der Gewaltvermeidung und der Dialogbereitschaft in diesem Konflikt!
—  ÜBERLEBENDE des Konzentrationslagers Dachau in der Ukraine und in Russland: Was können Sie den jungen Menschen bei ihrer Suche nach einem friedlichen Zusammenleben mit auf den Weg geben? Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation?

—   Ehemalige PROJEKTPARTNER, und Freunde des Gedächtnisbuch-Projekts: Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation? Welche Möglichkeit sehen Sie für sich, mit der Krise deeskalierend umzugehen.

Dürfen wir Ihre Beiträge online stellen?
Schließen Sie sich unserem Appell an, indem Sie uns bitte Ihren Namen, Ort und E-Mail-Adresse schicken. Wir werden dann Ihren Namen und den Ort hinzufügen.

 

Erstunterzeichner aus dem Trägerkreis für das  „Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau“:
Sabine Gerhardus, Andreas Kreutzkam, Dr. Björn Mensing, Nina Ritz, Ludwig Schmidinger, Klaus Schultz, Annerose Stanglmayr, Dr. Eva Strauss
Für die Lagergemeinschaft Dachau: Ernst Grube; für die Initiative „!Nie wieder“: Eberhard Schulz

Trägerkreis: Dachauer Forum – Katholische Erwachsenenbildung e.V. Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e.V.Katholische Seelsorge an der KZ‑Gedenkstätte Dachau § Max Mannheimer Studienzentrum | c/o: Dachauer Forum e.V. Ludwig-Ganghofer-Straße 4,