Maeva Keller: Jetzt sehe ich mehr die menschlichen Themen in der Gedenkstättenarbeit
Maeva Keller unterstützte das Gedächtnisbuch im letzten Jahr als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen und davon, wie sich ihr Zugang zur Gedenkstättenpädagogik verändert hat.
Was unterscheidet das Leben in Dachau von dem in anderen Städten?
Erstmal die Leute, natürlich. Dann zum Beispiel die Lebensmittel und vieles, was damit zusammenhängt. Ich komme ja aus dem Elsass und wenn ich hier zum Beispiel zum Edeka gehe, dann das ist vergleichsweise billig. Und es gibt mehr Ökologiethemen. Z.B. der Müll. Aber insgesamt ist das Leben nicht sehr anders als das Leben im Elsass.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du einmal erwähnt, es sei nicht so einfach, sich die ganze Zeit mit der KZ-Problematik zu beschäftigen?
Ja, am Anfang fand ich es sehr schwierig. Aber jetzt sehe ich mehr die Menschlichkeit, die menschlichen Themen, hinter der Arbeit in der Gedenkstätte, also der Erinnerungsarbeit, der Gedenkstättenpädagogik, der Arbeit mit Schülern, in den Veranstaltungen und Führungen. Ich habe viel gelernt über Erinnerungskultur, über die deutsche Perspektive. Ich kannte ja nur die französische Erinnerungskultur.
Wo ist der Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Erinnerungskultur?
Es ist sehr schwierig bei uns, das nationale Narrativ, den „roman national“ wie wir sagen, bei diesem Thema zu verhindern. Meine Generation und die Generation meiner Eltern, diese Generationen haben sich mehr für die Wahrheit interessiert. So haben wir in der Schule immer gefragt: „Das kann aber doch nicht stimmen, dass alle im Widerstand waren. Wir waren doch ein besetzter Staat.“ Denn wir hatten auch etwas von der Kollaboration gehört. Es ist schwierig, beides in ein Geschichtsbild zu integrieren, die Kollaboration und den Widerstand.
Was waren denn die drei wichtigsten Dinge für dich in deinem Freiwilligenjahr?
Als erstes unsere Reise nach Polen. Wir waren mit ASF in Oświęcim, Auschwitz. Ich habe viele Emotionen gespürt, wir haben an zwei Tagen insgesamt zwölf Stunden Ausschwitz I und II besucht. Es gab viele Fakten, viele Informationen, aber auch viele Emotionen, es war schwierig. Es ist nicht einfach mit der polnischen Erinnerungskultur, es ist ein bisschen so wie in Frankreich – wir sagen ja auch nicht, dass wir kollaboriert haben. Das war eine sehr emotionale Erfahrung für mich.
Der zweite wichtige Punkt war, mein Gedächtnisblatt vorzustellen. Das war meine erste öffentliche Präsentation vor mehr als 100 Leuten. Ich glaube, ich habe viel gelernt über mich, ich habe gelernt, mich zu präsentieren. Mit der Sprache ist es nicht einfach, aber ich musste meine Schüchternheit überwinden und viel mit den Leuten sprechen, um Deutsch zu lernen.
Drittens war ein wichtiger Punkt meine erste englische Führung in der Gedenkstätte. Es war interessant, meine Informationen, aber auch meine Erfahrungen und Emotionen mit den Schülern zu teilen. Es war eine griechische Gruppe. Es gibt viel zu sagen über die Nazis, aber auch über die Häftlinge. Ich finde das toll, dass sich so viele Leute die Zeit nehmen, in die Gedenkstätte zu kommen, die meisten sind im Urlaub, und dass sie sich im Urlaub die Zeit nehmen für diese Thematik. In der Versöhnungskirche schreiben viele kurze Texte darüber und zünden Kerzen an, ich merke, dass sie ähnliche Emotionen, ähnliche Gefühle, haben wie ich.
Wie hast du den Grafinger Schülern bei ihren Gedächtnisblättern helfen können?
Es war nicht so ganz einfach, die betreffenden Schüler können nicht so sehr gut Französisch, aber es ging. Für 16jährige ist diese Recherchearbeit zu ehemaligen Häftlingen kompliziert und eine Herausforderung, es ist nicht leicht, es ist auch nicht leicht für mich und ich bin geübt.
Spannend finde ich, dass das Thema Erinnerungskulturen für dich so zentral ist.
Ja, ich würde gerne in diesem Bereich arbeiten. Ich hoffe, dass ich einen Platz finde, denn in Frankreich haben wir weniger Gedenkstätten.
Ich würde gerne ein ähnliches Projekt wie das Gedächtnisblatt in Frankreich starten und mit Schülern diese Art von Erinnerungs- und Recherchearbeit durchführen. Ich denke, das ist ein guter Weg zur Geschichte. Denn der Unterricht allein kann ganz schön langweilig sein, einfach nur Information, Information ohne Beziehung zur Frage der Menschlichkeit, des menschlichen Verhaltens. Die Schule ist ok, wir müssen ja Informationen bekommen, aber das Verhalten der einfachen Menschen ist interessanter als immer nur von den ganz großen, von Napoleon und Charles de Gaulle zum Beispiel zu sprechen. So fand ich zum Beispiel Dachau und Georg Scherer interessant. Da hat ein Mensch so viel für die Stadt gemacht und bei den heutigen Dachauern ist das gar nicht wirklich bekannt.
Hast du denn einen Ratschlag, einen Tipp, für die neuen Freiwilligen?
Ich kann ihnen jetzt schon sagen: „Du wirst am Anfang Kopfschmerzen haben mit Deutsch, aber verlier nicht den Mut, das wird schon besser.“ Die beiden neuen sind auch eine Französin und eine Russin, haben also dieselbe Nationalität, das ist gut für uns, wir können in unserer Sprache mit den beiden kommunizieren. Es wird am Anfang schwierig sein für die Neuen, aber das wird sich schnell bessern. Ich denke, sie werden Spaß haben.
Wirst du wieder nach Dachau kommen?
Ja, ich denke schon, vielleicht zur Jahrespräsentation am 22. März nächstes Jahr. Jetzt muss ich erst einmal meinen Master fertig machen, in Straßburg, mit dem Schwerpunkt immaterielle Erinnerungskultur. Ich hoffe, das wird gut werden. Straßburg ist meine Lieblingsstadt und nicht weit weg von der Grenze, so komme ich schnell über die Grenze und kann zum Beispiel meine Einkäufe auf Deutsch machen, damit ich nicht alles vergesse. Ich hoffe, ich kann meine neuen Deutschkenntnisse bewahren.
(3.9.2019; Interview: Irene Stuiber)