Jahrespräsentation 22. März 2018

Ein weites Spektrum der Verfolgung spiegelt sich in den zwölf Biographien von ehemaligen Dachau-Häftlingen, die ehrenamtliche Autoren des Gedächtnisbuchs bei der Präsentation am 22. März 2018 vorstellten. Im Publikum folgten eine ganze Reihe von Angehörigen der Porträtierten den Ausführungen der Referentinnen und Referenten.

Fabian Hoppmann mit seinem Gedächtnisblatt zu Adi Maislinger

Unter den Vortragenden befanden sich viele Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Grafing. Hier gibt es seit 2014 unter Leitung von Lehrerin Petra Köpf W-Seminare des Gedächtnisbuchs. Auch die musikalische Begleitung des Abends übernahmen Schüler des Grafinger Gymnasiums.

Die wohl jüngsten Referentinnen stellte die Theresia-Gerhardinger-Realschule in Weichs: Sie haben zusammen mit einigen Mitschülerinnen intensiv zur Biographie von Josef Nieberle recherchiert. Weitere Informationen zu Porträtierten und Porträtierenden folgen in diesem Bericht.

 

Leslie Schwartz: der Erinnerungsarbeit tief verbunden

 

Die Grafinger Gymnasiastin Johanna Grebner stellte den Lebensweg von Leslie Schwartz vor. Ihre Recherchen haben ergeben, wie viele Fügungen des Schicksals nötig waren, um sein Überleben zu ermöglichen. 1930 in Ungarn geboren, überlebte Leslie Schwartz das Ghetto Kisvarda und die Lager Dachau, Allach, Karlsfeld, Mittergars und Mühldorf-Mettenheim. Noch am Tag vor der Befreiung, am 28. April 2015, erlag Schwartz beinahe einer tödlichen Schußverletzung.

Die Erinnerungsarbeit bedeutet für den in den USA lebenden Holocaust-Überlebenden die große Aufgabe seines Lebens: Er sorgte für den Wiederaufbau der Synagoge in Budapest und führt bis heute viele Zeitzeugengespräche. Eines davon mit Johanna Grebner, für die dieses Gespräch der wichtigste Teil ihrer Forschungen  ist: „Es war mir ganz besonders wichtig zu hören, wie er seine Geschichte erzählt.“

 

Johann Bieringer: standesgemäße Aversion gegen die Nazibonzen

Über das Schicksal Johann Bieringers berichtete Bernhard Weber, Dozent für Geschichte am Studienkolleg München. Bieringer wurde 1910 in Weichs geboren, die Familie lebte in Pasenbach im Landkreis Dachau und Johann Bieringer wuchs dort in einfachen Verhältnissen auf. „Er wollte sich der NSDAP nicht andienen“ und hatte „wohl eine standesgemäße Aversion gegen die Nazibonzen“ urteilt Weber. Ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten geriet Bieringer, weil er dem kommunistischen Widerstand zumindest nahestand. Auch nach einem Freispruch durch das Sondergericht München wurde Bieringer wieder ins KZ Dachau gesperrt. Er fiel im Zweiten Weltkrieg in Russland.

Wer die Biographie Bieringers nachlesen will: Das Gedächtnisblatt zu Bieringer findet sich auf dieser Website unter folgendem Link: https://www.gedaechtnisbuch.org/gedaechtnisblaetter/?f=B&gb=7963.

 

Thomas Held und Thomas Groß: lokale Gegnerschaft

Zwei Biographien aus Hohenkammer stellte Karl Strauß vor, der selbst lange Zeit in Hohenkammer gelebt hat. Er schildert einen Ort, der während der NS-Zeit politisch tief gespalten war. Sowohl Thomas Held wie auch Thomas Groß erlitten für ihre lokale Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten KZ-Haft. Karl Strauß erzählte, dass er mit den Gedächtnisblättern einer moralischen Pflicht zur Dokumentation dieser Schicksale nachgekommen sei. Mit Thomas Held verband ihn eine gute persönliche Bekanntschaft, Thomas Groß dagegen starb bereits vor der Geburt des Referenten.

Das Gedächtnisblatt zu Thomas Held steht auf dieser Website online: https://www.gedaechtnisbuch.org/gedaechtnisblaetter/?f=H&gb=7819.

 

George Scott: ein Foto, das um die Welt ging

Die Grafinger Schülerin Lisa Obermaier berichtete über den Lebensweg George Scotts. Der ungarische Jude wollte sich als Jugendlicher den Partisanen anschließen, wurde aber verhaftet und durchlitt die Lager Auschwitz, Kaufering III, Kaufering I, Kaufering IV und schließlich Dachau. Befreit wurde er in Dachau, ein berühmtes Foto zeigt ihn mit vor Freude in die Luft geworfener Mütze hinter Stacheldraht bei der Befreiung des Lagers. George Scott lebt heute in Toronto.

 

Franz Klement: Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung

Der Sozialdemokrat, Betriebsrat und Bürgermeister im böhmischen Dallwitz wurde nach der Annexion der Sudetengebiete verhaftet und im KZ Dachau eingesperrt, erst im April 1939 kam er wieder frei. Die Grafinger Schülerin Helena Strebl ist seinem Schicksal nachgegangen. Nach dem Krieg wohnte die Ehefrau des bereits 1944 verstorbenen Dachau-Häftlings zeitweise im sogenannten Wohnlager Dachau-Ost – also in den Häftlingsbaracken des vormaligen Konzentrationslagers.

 

Johann Neuberger: jüdischer Religionslehrer aus Franken

Beata Tomczyk, derzeit als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Dachau, sprach über ihre Recherchen zu dem aus Franken stammenden jüdischen Religionslehrer Johann Neuberger. Einige Monate vor seiner Deportation heiratete Neuberger. Er selbst, seine Ehefrau und das im Lager geborene Baby überlebten den Holocaust nicht. Beata Tomczyks Recherchen sind noch nicht abgeschlossen: Offene Fragen will sie in den nächsten Wochen klären.

 

Henk Zanoli: anarcho-syndikalistischer Rechtsberater in den Niederlanden

Peter Mreijen, Geschichtslehrer am niederländischen Het Baarnsch Lyceum, stieß in seiner Nachbarschaft auf die Lebensgeschichte von Henk Zanoli. Dessen Familie wanderte im 19. Jahrhundert aus dem Tessin in die Niederlande ein. Zanoli engagierte sich für die sozial Schwächeren und wurde verhaftet, als die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg potentielle linke Widerstandskämpfer eliminierten. Briefe aus dem Lager zeigen die tiefe Hoffnung Zanolis auf eine bessere Welt nach dem Krieg, aber auch seine Befürchtung, diese Zeit nicht mehr zu erleben. Er starb im Februar 1945 in Mauthausen. Mreijen betonte, diese und andere Biographien von NS-Verfolgten seien eine ständige Mahnung zur Wachsamkeit in unserer politischen Gegenwart.

 

Adi Maislinger: mit Worten gegen brutale Gewalt

 

Mit Flugblättern bekämpfte Adi Maislinger das NS-Regime. Das brachte ihm eine Verurteilung durch den Volksgerichtshof ein, acht Jahre Zuchthaus, im Anschluss daran KZ-Haft bis zur Befreiung durch die Amerikaner. Der Grafinger Schüler Fabian Hoppmann recherchierte Maislingers Geschichte und führte dafür unter anderem ein Interview mit der langjährigen Leiterin der KZ-Gedenkstätte, Barbara Distel. Sie kannte Adi Maislinger besonders gut, denn nach seiner Pensionierung in den sechziger Jahren gehörte er zu den unermüdlichen Unterstützern der Gedenkstätte und dies bis zu seinem Tod im Jahr 1985. Fabian Hoppmann über seine Recherchen: „Ich habe Adi Maislinger als einen sehr besonderen Menschen kennengelernt. Ich war wirklich froh, einen Einblick in sein Leben zu bekommen.“

 

Imre Bródy: Ausnahmephysiker

Der jüdische Physiker, 1891 in Gyula/Ungarn, starb 1944 im Außenlager Mettenheim M1 des KZ Dachau. Bródy erfand die mit Krypton gefüllte Glühbirne. Sein Schicksal erläuterte Erhard Bosch, der zusammen mit Karl Wingler ein Buch über Imre Bródy verfasst hat. Nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht wurde Imre Bródy über das Sammellager Békásmegyer ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Am 18.9.1944 verlegte man ihn über das KZ Dachau ins Außenlager Mettenheim M1 und das Waldlager V/VI, schließlich wieder nach Mettenheim, wo er den Tod fand. Am meisten beeindruckt hat die Verfasser bei ihren Recherchen zur Biographie des Physikers, dass sich Bródy entschied, bei seiner Familie zu bleiben, obwohl er wusste, was die Deportation bedeutete.

 

Engelmar Unzeitig: selbstlose Unterstützung anderer Häftlinge

Tief berührt vom Schicksal Engelmar Unzeitig zeigte sich Referent Sebastian Trohorsch, Schüler des Grafinger Gymnasiums. Der Pfarrer predigte in seiner böhmischen Gemeinde gegen die Judenverfolgung und wurde wegen „Kanzelmissbrauchs“ verhaftet. Im KZ Dachau half er anderen Häftlingen, wo er nur konnte. Freiwillig meldete er sich zur Versorgung der Typhuskranken und starb selbst im März 1945, einen Tag vor seinem 34. Geburtstag. Erst vor kurzem wurde Unzeitig selig gesprochen.  „Ich finde, die Seligsprechung spricht für sich selbst.“, meinte Trohorsch. „Eine solche Ehrung, die ja nicht oft ausgesprochen wird, zeigt, wie besonders dieser Mensch war.“

 

Josef Nieberle: Bürgermeister und Bauernvertreter

Zwei Schülerinnen der Theresia-Gerhardinger-Realschule in Weichs referierten über die Forschungen ihres Geschichtsarbeitskreises zu Josef Nieberle, Bauer und Bürgermeister in Weigersdorf. Der fest im katholischen Millieu verankerte Nieberle war den Nazis bereits 1933 ein Dorn im Auge. 1933 und 1934 stürmten jeweils Hunderte von Nazi-Anhängern seinen Hof. Nieberle wurde ins Gefängnis gebracht, vom 11.10.1935 bis 21.12.1936 war er im KZ Dachau eingesperrt. 1945 setzten ihn die Amerikanern wieder als Bürgermeister in Weigersdorf ein. Das Gründungsmitglied des Bayerischen Bauernverband starb 1948. Die beiden Referentinnen meinten: „Durch die Erarbeitung dieses Gedächtnisblatts haben wir viele neue und tolle Erfahrungen gemacht und sind mit Themen in Berührung gekommen, die uns zuvor noch unbekannt waren.“

Im Publikum folgten viele Mitglieder der Familie Nieberle den Ausführungen der Schülerinnen. Ein Filmausschnitt von Julian Monatzeder, der derzeit einen Film über das Gedächtnisbuch dreht, zeigte die Schülerinnen bei ihren Recherchen auf dem Hof der Familie in Weigersdorf.

 

Leslie Schwartz wendet sich in einen Brief an die Anwesenden

Sabine Gerhardus, Leiterin des Gedächtnisbuchprojekts, verlas ein Schreiben von Leslie Schwartz aus New York: „Ich bin tief berührt, zu wissen, dass ich nicht vergessen worden bin und dass die zukünftigen Generationen diese Arbeit des Erinnerns und Heilen fortsetzen werden, bedeutet mir alles. Es gibt keine Ehrung, die mir wichtiger wäre. Ich wünschte, ich könnte heute persönlich hier sein.“, schrieb der Holocaust-Überlebende, der aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Veranstaltung kommen konnte. „Haltet alle unsere Erinnerung am Leben und setzt euch ein für die ganze Menschheit und eine Welt ohne Hass und Ungerechtigkeit, in der Frieden herrscht und Liebe über den Hass siegt.“

 

Ein Dankeschön an alle Beteiligten

Klaus Schultz, Trägerkreisvertreter der Versöhnungskirche, erinnerte in seiner Begrüßung an ein Grundanliegen des Gedächtnisbuchs: „Die Überlebenden werden älter und weniger, ihre Stimme wird leiser. Umso wichtiger ist es, an sie zu erinnern und ihnen ein Gesicht, eine Stimme zu geben.“

Ludwig Schmidinger, Vertreter der Katholischen Seelsorge an der Gedenkstätte im Trägerkreis, bedankte sich bei den Mitwirkenden für die Einblicke in verschiedene Lebensgeschichten, die uns dazu ermutigen können, „auch das, was in unserem eigenen Leben los ist, was wir aktuell in unserer Gegenwart erleben, genauer anzuschauen, genauer wahrzunehmen und uns damit intensiv zu beschäftigen.“

Die Veranstalter bedanken sich sehr herzlich bei allen Mitwirkenden und Beteiligten, bei den beiden Dachau-Überlebenden Leslie Schwartz und George Scott, den Familienangehörigen aller porträtierten Personen und den Autorinnen und Autoren der Gedächtnisblätter.Vielen Dank auch an die Schüler Rosa Taccarelli, Robin Brunnthaler, Zoltan Botos und Jakob Skudlik vom Gymnasium Grafing für die musikalische Umrahmung des Abends. Eine besonders großes Dankeschön geht an die Schwestern vom Karmel Hl. Blut, die ihre schöne Klosterkirche für die Veranstaltung zur Verfügung stellten!

 

(27.3.2018; Text und Fotos: Irene Stuiber)