Elf neue Gedächtnisblätter. Erster Teil

In der Dachauer ASV-Theaterhalle präsentierten die ehrenamtlichen Autorinnen und Autoren des Gedächtnisbuchs am 22. März 2022 elf neue Biografien. Wir berichten über die Veranstaltung in zwei Blogbeiträgen und in chronologischer Reihenfolge.

Die meisten der während der Jahrespräsentation vorgestellten Biografien entstanden im W-Seminar „Namen statt Nummern“ am Dachauer Ignaz-Taschner Gymnasium. Außerdem präsentierte Hans Paulus sein Gedächtnisblatt über Petrus Mangold, die Enkelin von Xaver Kinateder, Petra Stemplinger, sprang für den erkrankten Autor Andreas Decker ein und Jos Sinnema sprach über den Niederländer Nico Staal.

Ukraine: eine Kerze für die getöteten, die leidenden und die bedrohten Menschen

Björn Mensing, Pfarrer an der Versöhnungskirche, erinnerte in seiner Begrüßung für den Trägerkreis daran, dass exakt vor 15 Jahren am 22. März 2007 das Gedächtnisblatt für Wassyl Wolodko der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Heute lebt der 97jährige überlebende Dachau-Häftling etwa 20 Kilometer südwestlich von Kiew in der Datsche seiner Familie. Bereits seit Beginn des Krieges hört er die Einschläge und Detonationen des Kriegs. Das betreuende Maximilian-Kolbe-Werk hätte ihn gerne aus dem Gefahrenbereich herausgebracht, aber dies sei wegen der schweren Bettlägrigkeit seiner Frau nicht möglich, berichtete Mensing. Als Zeichen für den Frieden in  der Ukraine entzündete Mensing eine in der vorgangenen Woche von Schwester Benedikta im Karmel an der KZ-Gedenkstätte Dachau gestaltete Kerze und bat um eine Gedenkminute für die getöteten, die leidenden und die bedrohten Menschen in der Ukraine.

Nicht um der Erinnerung allein

Sabine Gerhardus, die Projektleiterin des Gedächtnisbuchs, sprach über die vielen Verbindungen des Gedächtnisbuchs in die Ukraine. „Von 2005 bis 2007 gab es sieben Arbeitsgruppen dort, mit Werkstattgruppenleitern und 40 Teilnehmenden, Kontakte zu KZ-Überlebenden, ihren Familien, dann die ASF-Freiwilligen, die bei unserem Projekt mitgearbeitet haben… Es ist unerträglich, sich vorstellen zu müssen, was ihnen in den letzten Wochen angetan wurde, wie ihre Lebensgrundlagen zertrümmert werden.“, so Gerhardus.

Das Gedächtnisbuch sei ein Projekt der Erinnerung, der Ehrung von NS-Verfolgten, des Sich-Stellens der Verbrechen des Nationalsozialismus, aber nicht um der Erinnerung willen allein, betonte die Rednerin. „Es geht doch darum, die Gesellschaft zu sensibilisieren für die Auswirkungen von Menschenrechtsverletzungen, darum, besser zu erkennen, wo Unterdrückung, Diskriminierung, Hetzpropaganda beginnt, einen anerkennenden und wertschätzenden Dialog über Grenzen hinweg aufrecht zu erhalten – und einen Beitrag zu leisten für die Stärkung der Demokratie und für unser aller friedliches Zusammenleben.“

Ernst Fränkl: Emigration nach Südafrika

Über den in Augsburg tätigen jüdischen Religionslehrer und promovierten Psychologen Ernst Fränkl berichtete Marie-Sophie Albrecht, die dessen Lebensgeschichte im W-Seminar am Dachauer Ignaz-Taschner-Gymnasium recherchiert und in einem Gedächtnisblatt festgehalten hat.

Fränkl wirkte in der jüdischen Gemeinde auch als Kantor sowie in mehreren anderen Funktionen. Kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er am 15. Januar 1933 zum Obmann des jüdischen Lehrervereins gewählt. Auch im Bayerischen Lehrerverein war Fränkl Mitglied. Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde er für 8 Tage ins KZ Dachau gesperrt und am 20. November 1938 mit der Auflage entlassen, Deutschland zu verlassen. Im selben Jahr emigrierte Fränkl nach Südafrika. 1949 starb er in Kapstadt.

„Zu sehen, welche individuellen Schicksale hinter den großen Opferzahlen stecken, ist überwältigend.“, resümierte Marie-Sophie Albrecht ihre Erfahrungen im Gedächtnisbuch-Seminar.

„Ich habe ein Bild von meinem Großvater bekommen, den ich nie kennenlernen durfte“

Petra Stemplinger übernahm die Präsentation der Biografie ihres Großvaters, Xaver Kinateders, da der Verfasser des Gedächtnisblatts Andreas Decker wegen einer Krankheit leider nicht anwesend sein konnte. Sie berichtete, dass sie die Recherchen Deckers eng begleitet habe, auch selbst einmal mit in einem Archiv war. „Ich habe ein Bild von meinem Großvater bekommen, den ich nie kennenlernen durfte, das war schon toll.“, so die Referentin.

Xaver Kinateder lebte als Müller, Landwirt, Gastwirt und Politiker in der Nähe von Hauzenberg in Niederbayern. Wegen NS-kritischer Äußerungen wurde der BVP-Politiker er zweimal verhaftet, einmal davon nachweislich aufgrund einer Denunziation. Fünf Monate musste er im KZ Dachau verbringen. Nach dem Krieg engagierte sich Kinateder für die CSU in der Kommunalpolitik.

Der KZ-Überlebende stellte nach dem Krieg Antrag auf Entschädigung, das Verfahren zog sich über 16 Jahre, berichtete Petra Stemplinger. Vier Jahre nach dem Tod Xaver Kinateders erhielt die Familie einen Brief, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Die Witwe erreichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens und erhielt schließlich die Zahlung von 300 DM, bitter benötigtes Geld in der kinderreichen Familie.

Leonhard Roth: der einzige Priester mit schwarzem Winkel

Mit dem Lebensweg von Pater Leonhard Roth beschäftigte sich Emanuel Kieslinger im Rahmen des W-Seminars am Ignaz-Taschner-Gymnasium.

Kieslinger berichtete, dass Leonhard Roth bereits 1936 als Prior des „Studenkonvents für das Generalstudium“ in Walberberg in den Fokus der Gestapo geriet. Neben NS-kritischer Reden wurde ihm Homosexualität vorgeworfen. Roth gelang die Flucht in die Schweiz, die ihn allerdings 1941 nach Deutschland abschob. Es folgte eine Zeit im Gefängnis und danach im KZ Dachau. Hier lebte Roth als einziger Priester mit dem schwarzen Winkel im Priesterblock.

Nach dem Krieg wirkte Roth mit einer kurzen Unterbrechung in Dachau im Bereich des ehemaligen Konzentrationslagers als Seelsorger für SS-Internierte und Flüchtlinge. Als der Dachauer Bürgermeister Zauner die früheren KZ-Häftlinge gegenüber einem britischen Journalisten als mehrheitlich kriminell bezeichnete und eine KZ-Gedenkstätte heftig ablehnte, nahm Roth dagegen öffentlich Stellung. Dies führte zu seiner Suspendierung aus dem Seelsorgedienst. Leonhard Roth kam 1960 bei einer Wanderung ums Leben, die Behörden gingen von Suizid aus.

Emanuel Kieslinger schloß seinen Bericht mit folgender Einschätzung: „Ich persönlich finde Pater Roth sehr bewundernswert, weil er nach seiner KZ-Zeit mit seinen Peinigern zusammenlebte und ein gewisses Verständnis für sie aufbringen konnte. Außerdem finde ich sein Durchhaltevermögen sehr bemerkenswert, und seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus während, aber auch nach dem Ende der NS-Herrschaft.“

Bewegende Erfahrung

Die Lebensgeschichte von Ernst Jetter schilderte Amelie Sparr, Teilnehmerin des W-Seminars am Ignaz-Taschner-Gymnasium. Jetter war Rechtsberater, Kaufmann und KPD-Mitglied. Innerhalb der NS-Zeit wurde er viermal inhaftiert und überlebte mehr als 11 Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Jetter trat als Zeuge in den Dachauer Prozessen auf und erzählte als Zeitzeuge über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern.

„Die Recherche über Ernst Jetter und seine Geschichte sowie das Kennenlernen seiner Tochter haben mich sehr bewegt.“, berichtete die Referentin dem Publikum.

Ehemalige Plantage: „Das ist erschütternd, wie der Zustand ist“

Hans Paulus hat sich die letzten beiden Jahre intensiv mit dem Leben von Petrus Mangold beschäftigt. Der Franziskanerpater Mangold geriet ab 1934 immer wieder in Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten.

Charakteristisch für Mangold ist die Aussage: „Wir beugen uns nicht dem Zeitgötzen, wir bleiben Franziskaner.“ 1940 berief ihn die Generalkurie zum Kommissar für die Klöster der sudetendeutschen Länder. Kritische Äußerungen in einem Zirkular und die Weigerung, weitere Räume in den Klöstern in Mährisch-Trübau und Eger an den nationalsozialistischen Staat abzutreten, führten, so Paulus, wohl zu seiner Verhaftung am 29. März 1941.

In seiner Zeit im Konzentrationslager Dachau, gelang es Mangold zusammen mit einem früheren Bekannten, eine Liste von 225 inhaftierten Priestern aus dem Lager zu schmuggeln. Ab April 1942 musste Petrus Mangold im Konzentrationslager Dachau auf der berüchtigten Plantage arbeiten – bis zu seinem Tod am 18. Juli 1942.

Paulus konnte vor seinem Vortrag noch die Gedenkstätte und die Überreste der Plantage besichtigen. „Das ist erschütternd, wie der Zustand ist.“, schilderte Hans Paulus seine Eindrücke von den verfallenden Gewächshäusern. „Hier sollte dringend etwas getan werden, dass zumindest die Reste dieses schicksalhaften Geländes erhalten bleiben.“

(Ein Bericht über die weiteren Vorträge des Abends folgt am 18. April 2022.)

(30.3.2022; IS)