Das Gedächtnisbuch trauert um Erwin Schild (1920-2024)

Am Samstag, den 6. Januar 2024 starb Erwin Schild in seinem 104. Lebensjahr in seiner zweiten Heimatstadt Toronto. Erwin Schild hat die Herzen der Menschen berührt, die mit ihm zu tun hatten – ob privat, beruflich oder auch bei seinen Reisen nach Europa und bei seinem unermüdlichen Engagement für den jüdisch-christlichen Dialog.

V.l.n.r.: Sabine Gerhardus, Laura Schild und Erwin Schild in Ottawa 2012

Dass er Zuversicht und Hoffnungsfreude mit anderen teilen konnte, machte eine Begegnung mit ihm zu einer ganz besonderen Erfahrung. Im November 2014 sprach Erwin Schild im Dachauer Rathaus über seine Erinnerungen und appellierte an Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Jeder Flüchtling habe das Recht, bei jedem von uns Zuflucht zu finden. Nie dürften wir die Hoffnung aufgeben, dass die Menschen doch lernen würden, sich vom Hass abzuwenden. Nun ist die leise, aber kraftvolle und ermutigende Stimme Erwin Schilds verstummt.

Als Erwin Schild 2012 die Gedächtnisbuch-Ausstellung Namen statt Nummern an der Carleton-University in Ottawa eröffnete, hielt er eine Rede, die an eine Predigt erinnerte. „Unsere Ausstellung unterstreicht […] die unglaubliche Kraft des menschlichen Durchhaltevermögens, des Glaubens und des Mutes – und das Beharren darauf, dass das Böse nicht das letzte Wort hat. Die Ausstellung weist feige Versuche zurück, zu vergessen, zu verscharren und abzustreiten, sondern nimmt in Trauer und Demut die Verantwortung an, zu wissen und zu handeln.“ Und er fuhr fort mit Worten, die heute nicht aktueller sein könnten: „Die Zukunft beginnt heute, wenn wir die Stimmen hören, die uns zur Verantwortung rufen. Eine Stimme erklingt aus dem Zeugnis unserer Ausstellung `Namen statt Nummern´. Wir können die Vergangenheit, die unsere Ausstellung zeigt, nicht ändern, aber wir können eine andere Zukunft bauen.“

Erwin Schild ist in Köln aufgewachsen. Er war 18 Jahre alt und Student der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt Würzburg, als am 9. November 1938 mitten in der Nacht bewaffnete Horden in seinen Schlafraum im Wohnheim drangen, die Studenten bedrohten und die gesamte Einrichtung kurz und klein schlugen. Am nächsten Tag wurde er zusammen mit seinen Mitstudenten erst ins Gefängnis und dann ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit und die Ermordung seiner Eltern ließen ihn nie mehr los. Seine Lebensgeschichte hat Steffi Falk 2005 für das Gedächtnisbuch aufgeschrieben. Ausführlicher ist sie in einem seiner vier Bücher nachzulesen: The Very Narrow Bridge. Die Reder anlässlich der Ausstellungseröffnung „Namen statt Nummern“ ist in „The Crazy Angel“ veröffentlicht.

Erwin Schild war möglicherweise der letzte Überlebende des Konzentrationslagers Dachau, der während der Novemberpogrome 1938 Terror und Gewalt der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung erleben musste. Über 40 Jahre lang war Erwin Schild Rabbiner der Adath Israel Congregation in Toronto. Er war Seelsorger und Lehrer, ein Vorbild für seine Gemeindemitglieder wie für Familie und Freunde.

Am 8. Januar 2024 versammelten sich Familie, Freunde und Gemeindemitglieder in der Synagoge der Adath Israel Gemeinde in Toronto, um sich in einer bewegenden Trauerfeier von ihrem hochverehrten Rabbi Emeritus zu verabschieden. Diese Trauerfeier ließ sich über einen Livestream verfolgen.

Wie groß die Trauer, aber auch die Dankbarkeit für die Begegnung mit ihm sind, war den Rednern anzumerken. Der Erste Rabbiner der Gemeinde, Rabbi Adam Cutler, Erwin Schilds ältester Sohn Daniel, seine Tochter Judith, zwei seiner Enkel und weitere Weggefährten erinnerten an persönliche Erlebnisse mit ihrem Mentor, Vater und Großvater: „Schmerzlich vermissen wir seine Weisheit, seine Führung und seine Herzensgüte“, so Adam Cutler. Daniel Schild zitierte aus einer Erinnerung seines Vaters an das Konzentrationslager Dachau: „Als ich in Dachau inhaftiert war, hatte ich mir geschworen: Sollte ich lebend herauskommen, was nicht sehr wahrscheinlich war, würde ich niemals zulassen, dass mich ein zukünftiges Unglück niederdrückt oder besiegt. An dieses Gelübde habe ich mich gehalten.“

Ich kann mich dem Wunsch seines Enkels Aaron Weinroth nur anschließen: „Leider liegt es nun an unseren unvollkommenen Fähigkeiten, seine Arbeit fortzusetzen. Wir müssen hoffen, dass er uns gut gelehrt hat, und unser Bestes tun.“ Erwin, danke für die Brücken, die Du gebaut hast, für Deine Freundschaft und Ermutigung. Ruhe in Frieden!

Erwin Schild – Gedächtnisblatt

(21.1.2024; Sabine Gerhardus)