(Foto: Jack van Ommen)

„Du solltest es einmal erzählen, denn bald wirst Du nicht mehr da sein, und dann gibt es keine Zeugen mehr.“ Eindrücke von der Theateraufführung „Namen statt Nummern“

Jedes Jahr  feiern die Niederländer am 5. Mai den „Bevrijdingsdag“. Die Befreiung von der nationalsozialistischen Besatzung und das Ende des Krieges haben bis heute große Bedeutung für die Menschen. Der 5. Mai ist gesetzlicher Feiertag, überall finden Festivals und Konzerte statt. Am Vorabend, dem 4. Mai, wird der Toten gedacht. Am zentralem Platz, dem „Dam“, vor dem Königspalais in Amsterdam versammelten sich in diesem Jahr so viele Menschen, dass – so sah es zumindest in der Fernsehübertragung aus, die ich im Theater Bellevue live verfolgen konnte – keiner mehr dazwischen gepasst hätte. Um 20 Uhr legten König Willem-Alexander und seine Frau Maxima einen Kranz am Nationalmonument nieder. Das Königspaar begrüßte fünf Delegationen von Veteranen, die ebenfalls einen Kranz niederlegten. Darunter war auch der Überlebende des KZ Dachau, Jan (Skippy) de Vaal. Anschließend stehen die Tausende auf dem Platz mehrere Minuten in stillem Gedenken. Im Anschluss an die Kranzniederlegung wurde Skippy direkt zu uns ins Theater Bellevue gefahren.
Zu uns: das waren fast alle (ehemaligen) Schüler aus den
Niederlanden, Henriette Schulze (ehemalige Schülerin des Camerloher-Gymnasiums Freising)
und Anne Krombacher (ehemals Ignaz-Taschner-Gymnasium Dachau), die bisher am Projekt Gedächtnisbuch beteiligt gewesen sind und jetzt auf ihren Auftritt warten, Willemijn Petroff-van Gurp, die als Überlebende des KZ Dachau ebenfalls am Stück beteiligt war, die Organisatoren und Produzenten Jos Sinnema, Aik Meeuse und ihre Crew und ich. Zwischen der Generalprobe und dem Beginn der Aufführung war noch so viel Zeit, dass wir Skippys Kranzniederlegung  beobachten konnten. Pünktlich um 21.00 Uhr beginnt im ganzen Land „Theater na de Dam“ – verschiedene Theateraufführungen nach der zentralen Totengedenkfeier. In diesem Jahr war dank der Initiative von Jos
Sinnema und Aik Meeuse auch eine Aufführung von Schülern aus dem Gedächtnisbuch-Projekt möglich.

Der Theatersaal war bereits auf bis auf den letzten Platz gefüllt, die Schüler hatten mit der Aufführung begonnen, als Skippy den Saal betrat und mit großem Applaus begrüßt wurde. Aus meinen rudimentären
Holländisch-(Un)kenntnissen und der raschen Übersetzung von Aik, der neben mir saß, habe ich verstanden:  Ja, der König hatte ihn, Skippy, wiedererkannt – keine zwei Wochen vorher hatten sie sich ja bereits bei der Ausstellungseröffnung im Widerstandsmuseum kennengelernt.

In einer raschen Folge sahen und hörten wir nun Eindrücke
aus den Erinnerungen an die Projektarbeit der Schüler, unterlegt mit Filmausschnitten und einer musikalischen Darbietung. Anna Krombacher (ehemalige Schülerin des ITG Dachau aus Sulzemoos) erzählte mir:  „Es geht vor allem darum, auch unsere Erfahrungen herauszubringen, mit unserer Arbeit an den Gedächtnisblättern und
mit unserer Arbeit mit der damaligen Zeit. Herzstück des ganzen waren Willemijns Erinnerungen an die Zeit ihrer Haft in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Dachau und den Weg, den sie – auch durch das Gedächtnisbuch – vom Schweigen und Verdrängen der Erinnerungen hin zum Sprechen gefunden hat:  „Seitdem habe ich meine Geschichte schon öfters erzählt. Und ich kann Ihnen sagen: es ist wie eine Befreiung. Das Leid hat sein schärfsten Kanten verloren und die schönen Erinnerungen aus dem Lager sind in den Vordergrund gerückt. Damit meine ich die intensive Freundschaft, die ich im Lager erleben durfte.“ Willemijn ist diesen Schritt gegangen,  „weil ich es wichtig finde, dass die Jugend versteht, was Freiheit bedeutet, was Meinungsfreiheit bedeutet, was die Gefahren der Diktatur sind und was es heißt, wenn Menschen für minderwertig erklärt werden.“
Mit Anna und Henriette konnte ich noch vor der Aufführung ein kurzes Interview führen. Ich fragte sie, was für sie das Besondere an diesem Projekt war:
(Foto: Jack van Ommen)
Anna sieht man ihre Begeisterung an: „Ich find‘ wahnsinnig toll, dass wir die Chance haben bei so was mitzumachen. Ich meine, ich habe meine Biographie für das Gedächtnisbuch 2010/2011 geschrieben. Also das sind jetzt 5 Jahre her, und jetzt sitze ich hier in Amsterdam und hab die Gelegenheit bei so was Tollem mitzumachen, bei dem Buch, und dann die Theateraufführung. Ich meine, es sind ehemalige Häftlinge dabei, die wir heute sprechen hören – hoffentlich dann auch verstehen, weil die Paula ein bisschen übersetzen wird. Ich find das ein Wahnsinns-Projekt!“ Henriette ergänzt: „Ich finds auch schön, dass es hier
gemacht wird, nicht nur in Deutschland, dass es sich ausgeweitet hat auf andere Länder und dass die auch daran Interesse haben, es mit Deutschen zu teilen und die mitmachen zu lassen, obwohl es ja um Niederländer geht und wir ja nicht niederländisch sind. Das find ich schon was besonderes, dass sie uns teilhaben lassen.“
Wie das Theaterprojekt für die beiden ablief, haben sie in einem Reisetagebuch für den Blog aufgeschrieben.
Vielen Dank an alle Beteiligten für diesen anrührenden Abend!
(Foto: Jack van Ommen)
( Text: Sabine Gerhardus)

Veranstaltung: Heimkehr 1945 – Der schwierige Weg der befreiten KZ-Häftlinge

Gerd Modert, Historiker und Referent des Dachauer Forums, spricht am 19.5.2015 um 19.30 Uhr in der Versöhnungskirche über die Herausforderungen, denen sich die Überlebenden der Konzentrationslager nach der Befreiung stellen mussten. Nähere Informationen finden sich auf der Website der Versöhnungskirche: http://versoehnungskirche-dachau.de/angebote/pages/Veranstaltungen.php .

Wer will, kann bei dieser Veranstaltung im Gedächtnisbuch blättern, das im Veranstaltungsraum der Versöhnungskirche ausliegt.

Dokumentation: Rede von Romani Rose am 2.5.2015 in Dachau

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Naor, meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

der Name des Konzentrationslagers Dachau steht auch stellvertretend für den Völkermord an den Sinti und Roma. Es handelt sich um ein Staatsverbrechen, das akribisch geplant und ins Werk gesetzt wurde. Der nationalsozialistische Staat sprach den Angehörigen unserer Minderheit auf der Grundlage einer menschenverachtenden Rassenideologie kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren.

Bereits die berüchtigten Nürnberger Gesetze wurden auf direkte Anweisung von Reichsinnenminister Frick auf Sinti und Roma genauso angewandt wie auf Juden. In der Folge wurden die Angehörigen unserer Minderheit systematisch aus allen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt. Im Dezember 1938 forderte Himmler in einem Erlass die (Zitat) „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“. Mitte Mai 1940 begann die SS-Führung mit der Deportation ganzer Familien ins besetzte Polen.

Höhepunkt der Vernichtungspolitik war die Deportation von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und dem besetzten Europa nach Auschwitz-Birkenau, auf der Grundlage eines Himmler-Befehls vom 16. Dezember 1942

Die Gaskammern von Auschwitz, in denen Tausende unserer Menschen einen qualvollen Tod erleiden mussten, sind zum Symbol für ein Verbrechen geworden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.

Das Netz der Konzentrationslager, der Erschießungsstätten und der Massengräber mit den ermordeten Angehörigen unserer Minderheit zieht sich über ganz Europa. Über 500.000 Sinti und Roma fielen der systematischen Vernichtung zum Opfer.

Für diesen Zivilisationsbruch steht auch das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Der Ort, an dem wir heute stehen, ist für uns Sinti und Roma zuallererst ein riesiger Friedhof.

Im Zuge der Massenverhaftungen im Juni 1938 trafen erstmals Sinti und Roma in größerer Zahl im Lager ein, wo sie dem Terror der Bewacher hilflos ausgesetzt waren. Zu den furchtbarsten Kapiteln der Leidensgeschichte unserer Minderheit im KZ Dachau gehören die medizinischen Experimente, die an Sinti- und Roma-Häftlingen durchgeführt wurden. Niemand kann die Qualen ermessen, die sie dabei erleiden mussten.

Es waren die alliierten Soldaten, die dem beispiellosen Morden des NS-Staates unter Einsatz ihres eigenen Lebens Einhalt geboten und die Europa unter großen persönlichen Opfern vom Nationalsozialismus befreit haben. Ihnen gilt unser besonderer Dank.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede unserer Familien war vom nationalsozialistischen Völkermord in existenzieller Weise betroffen. Diese Erfahrung absoluter Rechtlosigkeit hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und unsere Identität als Minderheit geprägt.

In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft hingegen wurde der Völkermord an den Sinti und Roma verdrängt, verharmlost oder gar geleugnet.

Die Beamten aus dem SS- und Polizeiapparat, die den Völkermord ins Werk gesetzt hatten, blieben weiterhin in Amt und Würden. Beispielhaft für diese personelle und ideologische Kontinuität ist Josef Eichberger. Er war im Dritten Reich in der Münchener „Zigeunerzentrale“ mit der systematischen Erfassung der Sinti und Roma befasst.

Am 16. Mai 1938 befahl Himmler als „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ den Umzug der Münchner „Zigeunerzentrale“ – samt ihrer Abertausenden Akten – ins Reichskriminalpolizeiamt nach Berlin. Dort wurde im Oktober 1938 eine eigene „Reichszentrale“ eingerichtet, die die Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma fortan steuerte. Im Folgejahr wurde sie Teil des neu gegründeten Reichssicherheitshauptamtes.

Josef Eichberger gehörte zu den so genannten „Zigeunerspezialisten“, die 1938 von München nach Berlin gingen, um dort den europaweiten Völkermord an den Sinti und Roma zu organisieren.

Nach dem Krieg wurde Eichberger zwar kurzfristig interniert, gelangte aber schon 1949 wieder in den Staatsdienst. Später wurde er Leiter der so genannten „Landfahrerzentrale“ beim Bayerischen Landeskriminalamt in München, wo er unter Weiterverwendung der NS-Akten die rassistische Sondererfassung von Sinti und Roma fortsetzte. Dabei scheute man nicht einmal davor zurück, die in Auschwitz eintätowierten KZ-Nummern als Erkennungsmerkmale zu registrieren.

Die bayerische „Landfahrerzentrale fungierte bald wieder als bundesweite Nachrichtensammelstelle für Sinti und Roma. Ein Ermittlungsverfahren gegen Eichberger und seinen früheren Vorgesetzten im Reichsicherheitshauptamt, SS-Hauptsturmführer Wilhelm Supp, wegen ihrer Verstrickung am Völkermord wurde 1963 eingestellt.

Um die rassenideologischen Motive der NS-Verfolgung zu verschleiern, rechtfertigten die vormaligen Täter die Deportationen von Sinti und Roma in die Vernichtungslager als angeblich „kriminalpräventiv“. Die Kriminalisierung der Opfer war eine entscheidende Vorausaussetzung für die Täter, sich selbst zu entlasten.

Die öffentliche Wahrnehmung unserer Menschen in der Nachkriegszeit war weiterhin von den Zerrbildern der NS-Propaganda geprägt. So heißt es in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956 zur Entschädigung (ich zitiere): „Sie [die Zigeuner] neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung von fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“ (Zitat Ende)

Damit übernahm der BGH die Rechtfertigungsstrategie der Nationalsozialisten und deren demagogische Hetze. Versuchen Sie sich vorzustellen, was es für einen traumatisierten Angehörigen unserer Minderheit, der der Hölle der Konzentrationslager entronnen war, bedeuten musste, einer solch infamen Diffamierung von höchstrichterlicher Stelle ausgesetzt zu sein. Es ist eine wichtige symbolische Geste, dass sich die derzeitige BGH-Präsidentin Bettina Limperg von diesem Urteil kürzlich in aller Klarheit distanziert hat.

Es war die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma, die sich den ehemaligen Tätern entgegengestellt und die personellen wie ideologischen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus öffentlich angeprangert hat.

Eine entscheidende Zäsur war der Hungerstreik hier in der Gedenkstätte Dachau an Ostern 1980, der in den internationalen Medien ein bis dahin ungekanntes Echo fand.

Dass der Völkermord an unserer Minderheit einen eigenen historischen Stellenwert hat, dass unseren Opfern eine eigene Erinnerung und eine eigene Würde zukommt – dafür haben die deutschen Sinti und Roma lange kämpfen müssen. Dass dieser jahrzehntelange Kampf nicht vergebens war, bezeugt das nationale Denkmal für die ermordeten Angehörigen unserer Minderheit beim Berliner Reichstag, das im Oktober 2012 im Beisein von Bundespräsident Gauck und Bundeskanzlerin Merkel der Öffentlichkeit übergeben wurde.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, siebzig Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur kann es ganz gewiss nicht darum gehen, den Nachkommen der Täter irgendeine Form von Schuld aufzubürden. Der Sinn des Erinnerns besteht vielmehr in der gelebten Verantwortung für die Gegenwart und für unser Gemeinwesen.

Minderheiten wie Sinti und Roma, Juden oder Muslime müssen wieder einmal als Sündenböcke für ökonomische Fehlentwicklungen und soziale Verwerfungen herhalten. Rechte Parolen finden bis in die Mitte der Gesellschaft Widerhall. Doch die angebliche Verteidigung des Abendlandes vor Entfremdung ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Infragestellung dessen, was die offene demokratische Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Als politischer Vertreter der deutschen Sinti und Roma möchte ich ganz klar sagen: Rassismus und Populismus bedrohen nicht nur die Rechte von Minderheiten, sondern zielen auf das Herz der Demokratie. Es geht dabei immer um unsere demokratische Kultur und um die Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Wenn – wie kürzlich in Sachsen-Anhalt geschehen – ein Bürgermeister aus Angst vor dem rechten Terror zurücktritt und ein Landrat wegen Morddrohungen von der Polizei geschützt werden muss, wenn Rechtsextreme ganze Landstriche zu Tabuzonen oder so genannten „No-go-Areas“ für Ausländer erklären – dann ist unsere freiheitliche Demokratie in ihrer Substanz bedroht. Dann sind wir alle gefordert, unsere Gesellschaft und die sie tragenden Werte gegen rassistische Gewalt und Menschenverachtung zu verteidigen.

Jeder Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylsuchende und jeder Angriff auf einen Menschen anderer Hautfarbe ist ein Angriff auf unseren Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt.

Rituelle Gesten der Betroffenheit reichen nicht aus. Politik, Justiz und Gesellschaft stehen gleichermaßen in der Pflicht, menschenfeindliches und antidemokratisches Handeln konsequent zu ächten. Doch ebenso wichtig ist es, die sich vielerorts engagierenden Netzwerke gegen rechts auch staatlicherseits zu unterstützen.

Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft müssen wir gemeinsam verteidigen, für diese Werte müssen wir die junge Generation immer wieder neu gewinnen und begeistern.

In diesem Sinne begreife ich das Vermächtnis all derer, die an diesem historischen Ort leiden und sterben mussten.

Ich danke Ihnen.

 

 

Dokumentation: Begrüßung von Oberbürgermeister Florian Hartmann am 2.5.2015

Verehrte Zeitzeugen,
verehrter Abba Naor,
sehr geehrter Herr Romani Rose,
sehr geehrte Gäste,

ich darf  Sie als Oberbürgermeister der Stadt Dachau im Namen der Stadt und der Dachauer Initiative Mahnmal Todesmarsch zur Gedenkfeier am Todesmarsch-Mahnmal herzlich begrüßen.  Ich bin beeindruckt und bewegt, dass anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau so viele Menschen an dieser Gedenkfeier teilnehmen. Und ich bin dankbar dafür, dass wir in diesem Jahr so viele Überlebende aus so vielen Ländern Europas und der Welt hier in Dachau begrüßen dürfen. Ganz besonders begrüßen darf ich an dieser Stelle Abba Naor, der im Anschluss zu uns sprechen wird. Ihre Anwesenheit, verehrte Zeitzeugen, ist für uns eine große Ehre; zugleich ist sie ein Geschenk, da sie uns Nachgeborenen die Möglichkeit gibt, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und ihren Leidens- und Lebensgeschichten kennenzulernen; Ihre Anwesenheit ist für uns aber auch Verpflichtung, Verpflichtung, Ihre Geschichte und Ihr Vermächtnis in die Zukunft zu tragen und dafür zu sorgen, dass sie niemals vergessen werden.

Es ist in diesem Sinne ein sehr schönes Zeichen, dass sich an der heutigen Gedenkfeier auch Schülerinnen und Schüler des Josef-Effner-Gymnasiums Dachau mit einer Lesung beteiligen, die ich mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern ganz herzlich begrüßen darf. Mein besonderer Gruß gilt auch Herrn Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der ebenfalls im Anschluss zu uns sprechen wird. Musikalisch umrahmt wird die Gedenkfeier von der Familie Huber-Ewald und vom Chor „Valentin Polansek“ unter der Leitung von Bozo Hartmann aus dem slowenischen Obirsko, das nahe der Dachauer Partnerstadt Klagenfurt liegt. Der Chor wurde von Valentin Polanšek, selbst Überlebender des KZ Dachau, gegründet und steht bis heute in der Tradition des slowenischen Chores im KZ Dachau, dessen Lieder zu den wichtigsten Widerstandsaktionen der Kärntner Slowenen gehörten. Es ist mir eine ganz besondere Freude, dass wir neben dem Chor auch politische Repräsentanten aus nahezu allen Dachauer Partnerstädte begrüßen dürfen. So die Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Klagenfurt Dr. Maria-Luise Mathiaschitz, den Bürgermeister der Gemeinde Renkum in den Niederlanden Jean Paul Gebben, den Bürgermeister der Gemeinde Oradour-sur-Glane in Frankreich, Philippe Lacroix, sowie Stadträte aus dem italienischen Fondi und aus dem polnischen Oswiecim. Eine ganz besondere Ehre für die Stadt Dachau ist die Anwesenheit von Robert Hebras, Überlebender des von der Waffen-SS verübten Massakers von Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944.

Verehrte Zeitzeugen, sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir heute hier am Mahnmal gemeinsam der Toten des Todesmarsches gedenken – auf den die SS wenige Tage vor der Befreiung Ende April 1945 mehr als zehntausend Häftlinge trieb, die zu tausenden auf diesem Marsch vor Entkräftung und Krankheit zu Tode kamen, erschossen oder erschlagen wurden – so müssen wir uns auch 70 Jahre nach der Befreiung des KZ Dachau unermüdlich immer wieder in Erinnerung rufen, was damals in Europa, in Deutschland, hier in Dachau geschehen ist. Wenn wir von 6 Millionen ermordeten Juden sprechen, von 40.000 ermordeten Häftlingen im KZ Dachau, von tausenden von Toten auf dem Todesmarsch sprechen, so sollten wir uns vergegenwärtigen: jeder einzelne der Ermordeten war ein Mensch mit einer Geschichte wie wir, einem Leben, das gelebt hätte werden können, wie das unsere, mit einer Familie, die ihn liebte und die er liebte, wie wir unsere Familien lieben. Ausgelöschte Leben, vernichtet nur aufgrund einer Religion, einer politischen Haltung, einer Herkunft.

Wir können es uns kaum vorstellen, so wie wir hier zusammen sind, friedlich, gleichberechtigt, Menschen aus so vielen Ländern, so unterschiedlicher Religion und Herkunft. Es ist oft die Rede von Versöhnung. Ja, es gibt Versöhnung – aber nein, Versöhnung darf nicht vergessen heißen. „Nie wieder“, so lautet der Appell der Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau. „Wachsam sein“, das muss uns dabei bewusst bleiben. Ihnen, den Überlebenden, möchte ich als ein junger Oberbürgermeister dieser Stadt persönlich und aus tiefstem Herzen versichern: Die Stadt Dachau wird alles daransetzen, Ihren Appell und Ihren Auftrag in die Zukunft weiterzutragen.

 

 

 

 

 

 

Gedenkfeier zur Erinnerung an die Todesmärsche: „Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt!“

Für das Gedächtnisbuchprojekt war diese Veranstaltung von besonderer Bedeutung: Zu Abba Naor gibt es eine Biographie im Gedächtnisbuch. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, dessen Vorsitzender Romani Rose ist, hat im Jahr 2008 die Internationale Wanderausstellung des Gedächtnisbuchs gezeigt. Diese Ausstellung zeigt ein Porträt des österreichischen Roma-Angehörigen Karl Wacker Horvath, für den es auch ein Gedächtnisblatt gibt. Andreas Pflock, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationszentrums, hat mit Jugendlichen Biographien für das Gedächtnisbuch erarbeitet, eine davon für den deutschen Sinto Karl Pasquali.

Wir freuen uns, dass wir die Reden von Romani Rose und die Begrüßung des Dachauer Oberbürgermeisters Florian Hartmann im Original dokumentieren dürfen. Sie finden Sie in den nachfolgenden Posts.

 

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, erinnerte an die Ermordung von 500.000 Roma und Sinti, an die Fortführung der rassenideologischen Denkweise der Nationalsozialisten bis weit in die Nachkriegszeit. Er erinnerte auch an den Kampf der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, sprach von Erfolgen auf dem Weg zur Gleichberechtigung, prangerte aber auch Missstände an: „Minderheiten wie Sinti und Roma, Juden oder Muslime müssen wieder einmal als Sündenböcke für ökonomische Fehlentwicklungen und soziale Verwerfungen herhalten. Rechte Parolen finden bis in die Mitte der Gesellschaft Widerhall.“

Rassismus und Populismus bedrohten nicht nur die Rechte von Minderheiten, sondern zielten auf das Herz der Demokratie, so Rose. „Jeder Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylsuchende und jeder Angriff auf einen Menschen anderer Hautfarbe ist ein Angriff auf unseren Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie Schaden nimmt.“

Rose rief Politik, Justiz und Gesellschaft dazu auf, rassistisches und menschenfeindliches Handel konsequent zu ächten und antirassistische Netzwerke zu unterstützen.

Sein Appell: „Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft müssen wir gemeinsam verteidigen, für diese Werte müssen wir die junge Generation immer wieder neu gewinnen und begeistern.“

Im Anschluss an Romani Rose sprach der Überlebende des KZ Dachau, Abba Naor, der am 26. April 1945 als siebzehnjähriger auf den Todesmarsch geschickt wurde. Abba Naor hielt eine kurze Ansprache im Namen der anwesenden Zeitzeugen: „Wir brauchen uns nicht erinnern, weil wir nicht vergessen haben. Wir waren dabei.“ Seit 2006 ist Abba Naors Lebensgeschichte im Gedächtnisbuch nachzulesen. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers ist er mit zwei seiner acht Urenkel angereist.

Aus den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge zitierten Schüler und Schülerinnen des Josef-Effner-Gymnasiums. Die Veranstaltung wurde musikalisch von der Familie Huber-Ewald und vom Chor „Valentin Polanšek“ aus Slowenien begleitet. Der Chor wurde von dem Überlebenden des KZ Dachau, Valentin Polanšek, gegründet und steht bis heute in der Tradition des slowenischen Chores im KZ Dachau.

 (Text und Fotos von Sabine Gerhardus)

50 Jahre Versöhnungskirche: Wir gratulieren!

Ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, kirchliche Vertreter und Ehrengäste aus mehreren Ländern legten am 8. Mai 1965 den Grundstein für die Versöhnungskirche. Beim Architektenwettbewerb hatte ein Entwurf das Rennen gemacht, der gleichwertig zur Kirche einen Begegnungsraum vorsah.
Ein ambitioniertes Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm zeigt bis heute, wie wichtig der Gedanke der Begegnung an diesem Ort war und ist. Die Versöhnungskirche ist einer der Träger des Gedächtnisbuchprojekts, im Begegnungsraum findet seit 15 Jahren die ausgestellten Gedächtnisblätter ihren Platz. Nicht zuletzt soll erwähnt werden, dass die Versöhnungskirche architektonisch als einer der wichtigsten Sakralbauten der Nachkriegszeit gilt. Wir gratulieren sehr herzlich zum 50jährigen Jubiläum!

Interview zur Ausstellung „Namen statt Nummern“ an der Berufsfachschule für Kinderpflege in München

Liebe Frau Röll, Sie unterrichten an der Berufsfachschule für Kinderpflege in München. Die Berufsfachschule  zeigt die Ausstellung zum Gedächtnisbuchprojekt schon zum wiederholten Mal?
Die Ausstellung „Namen statt Nummern“ wird heuer das dritte Mal jeweils im Abstand von zwei Jahren an unserer Schule gezeigt. Alle Klassen der 10. und 11. Jahrgangsstufe der Berufsfachschule für Kinderpflege besuchen die Ausstellung in der Zweigstelle in der Hiltensbergerstr. 72 zusammen mit ihren Ethik- und Religionslehrkräften. Die 10. Klassen haben im Vorfeld einen Seminartag am Max-Mannheimer Studienzentrum in Dachau mit Besuch der Gedenkstätte absolviert.

 

Wie wird dieser Ausstellungsbesuch inhaltlich in den Unterricht eingebettet?

Die Ausstellungsbesuche schließen sich an die Thematik Judentum an. Unsere Absicht ist es, den Jugendlichen, die zum Großteil viele unterschiedliche Nationalitäten haben, den Holocaust näher zu bringen. Noch wichtiger ist es, anhand der Ausstellung die Einzelschicksale näher kennenzulernen. Dazu erhalten die Schülerinnen und Schüler einen Arbeitsauftrag. Sie sollen sich in Gruppen eine Person aussuchen, mit deren Leben sie sich näher befassen wollen.
Auf der Basis des Gedächtnisbuchs und anderer Quellen sollen sie dann den Lebensweg z.B. auf einem Plakat visualisieren, also die hellen und die dunklen Zeiten. Genauso wichtig ist aber die Frage, warum wir uns heute mit diesen Schicksalen beschäftigen. Was sagen sie uns? Was können wir von ihnen lernen?Inwiefern sind sie für mich heute ein Vorbild?

Was sagen Ihre Schülerinnen und Schüler dazu?

Die Jugendlichen sind in der Regel von der Ausstellung fasziniert. Sie sind sehr motiviert, sich auf die Personen einzulassen. Auch die Präsentation ihrer Arbeit ist häufig sehr emotional und die Ergebnisse sehenswert.

Diese guten Erfahrungen haben uns davon überzeugt, die Ausstellung immer wieder den neuen Schülergenerationen zu zeigen. Sie hat in den Jahren nichts von ihrer Wirkung auf die jungen Menschen verloren. So hoffe ich, dass sie noch einige Jahre unsere zukünftigen Kinderpflegerinnen und Kinderpfleger auf eindrucksvolle Weise zeigen kann, dass Menschen auch in extrem schwierigen
Situationen ihre Menschlichkeit bewahren und leben können.

 

 Zum ersten Foto: Vor den Bannern stehen Vasen. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen für „ihren“ Häftling eine Patenschaft, indem sie Blumen in die Vasen stellen und auch Steine davor ablegen.  Die Vasen sind noch nicht gefüllt, das Foto ist vom Beginn der Ausstellung.

„Mein Sohn, werde Imker, dann wirst Du hundert Jahre alt werden“

Am Donnerstag, den 30. April waren Pjotr Stepanowitsch  Kudin und Mussij Dmytrowytsch Galajko bei mir zu Gast. Beide sind in unserer Wanderausstellung zu sehen. Herrn Kudin kenne ich inzwischen seit 1996 oder 1998, zunächst von dem Einladungsprogramm des Fördervereins, für das ich früher die Gruppenbetreuungen gemacht habe, dann von den Spendenaktionen in der Ukraine und natürlich vor allem durch das Osteuropa-Projekt im Gedächtnisbuch, bei dem zwei ukrainische Teilnehmerinnen, Viktoria Naumenko und  Inna Demus, für die beiden Gedächtnisblätter erstellt haben. In diesem Zusammenhang waren sie auch beide 2007 auf Einladung des Gedächtnisbuchs in Dachau, Mussij Galajko damals auch schon in Begleitung seines Sohnes Wladimir, der auf dem Bild am Tisch ebenfalls zu sehen ist. Kudin ist momentan als Gast des Fördervereins in Dachau, Herr Galajko auf Einladung der KZ-Gedenkstätte. Er wird von seiner Familie begleitet.

Wir haben unser Wiedersehen gefeiert und gemeinsam mit Tatjana Pastushenko, Historikerin in Kiew, einen schönen Abend verbracht. Tatjana Pastushenko hat von 2005-2007 eine Gedächtnisbuch-Werkstattgruppe in Kiew geleitet. Sie ist momentan mit einer Gruppe von ehemaligen Häftlingen verschiedener Lager auf Einladung des Arbeiter-Samariter-Bundes in München und wir nutzten die Gelegenheit für ein Wiedersehen. Sie hat die Fotos gemacht – vielen Dank dafür!

Herr Galajko hat sich seine freundliche bescheidene Art erhalten und strahlt Zufriedenheit und Gelassenheit aus. Es ist schön zu sehen, wie liebevoll seine Familie zu ihm steht und ihm während seines Aufenthaltes in Dachau beisteht.

Ich erinnere mich immer an einen Spruch aus dem Gedächtnisblatt von Herrn Kudin, in dem er seinen Vater zitiert: „Mein Sohn, werde Imker, dann wirst Du hundert Jahre alt werden“. Herr Kudin ist auf dem besten Weg dazu: Er ist jetzt 90 Jahre alt und wirkt agil wie eh und je. Er hält immer noch Bienen. Ich danke Ihnen, Mussij Dmytrowytsch und Pjotr Stepanowitsch für Ihren Besuch und wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie und ihre Angehörigen in eine friedliche Zukunft sehen können!

(Text: Sabine Gerhardus)

Foto: Jack van Ommen

Herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des General-André-Delpech-Preises an Jos Sinnema!

Der Trägerkreis freut sich mit Jos Sinnema über eine außergewöhnliche Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes für die Erinnerung an die ehemaligen KZ-Häftlinge in den Niederlanden. Am 24. April 2015 wurde Jos Sinnema im Rahmen einer Dachau-Lesung in Amsterdam der General-André-Delpech-Preis  des CID verliehen. Die Laudatio hielt Sonja Holtz-Arendse, die Medaille wurde Jos von der ehemaligen Leiterin der KZ-Gedenkstätte und ersten Preisträgerin Dr. Barbara Distel überreicht.
Foto: Jack van Ommen

Der Preis wird an Personen verliehen, die „für das CID und für die Erinnerung beispielhaft gearbeitet haben“. Er ist benannt nach dem 2012 verstorbenen ehemaligen Widerstandskämpfer und späteren Präsidenten der französischen Lagergemeinschaft und Vorsitzenden des Internationalen Dachau Komitees, André Delpech. Bisher haben den Preis erhalten: Dr. Barbara Distel und Dr. Angela Merkel.

Das Gedächtnisbuch verdankt Jos´ Einsatz nicht nur wunderbare neue Biographien, sondern ist durch seine Mitarbeit auch internationaler geworden und hat viel zusätzliche Anerkennung erfahren. Sabine Gerhardus freut sich über „die stets anregende Zusammenarbeit, über neuen Anregungen, Ideen oder einen anderen Blickwinkel, die meine Arbeit bereichern“.

Wir gratulieren!