Per Mobilgerät auf den Spuren von Geistlichen im KZ Dachau

Die Erzdiözese München und Freising veröffentlicht eine Gedenk-App, um die Erinnerung an von den Nationalsozialisten verfolgte Geistliche zu bewahren.

Ausschnitt Gedächtnisblatt Joseph Kentenich

Die Katholische Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte Dachau, im Trägerkreis des Gedächtnisbuchs vertreten, hat eine Smartphone-App entwickelt, mit deren Hilfe man die Lebensdaten von 2.720 Geistlichen verschiedener Konfessionen und Religionen abrufen kann, die im Konzentrationslager Dachau von 1940 bis 1945 inhaftiert waren.

In keinem anderen Lager wurden Geistliche in so großer Zahl gefangen gehalten. Finanziert wurde die App von der Erzdiözese München und Freising, die damit die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt bewahren will. Neben der Einsicht in die Biographien der Geistlichen führt die App Besucherinnen und Besucher vor Ort (zur Zeit ist die Gedenkstätte leider geschlossen) oder virtuell auf zwei Rundgängen über das Gelände der KZ-Gedenkstätte. Die Gedenk-App mit dem Titel „Geistliche im KZ Dachau“ ist kostenlos über den App Store oder den Google Play Store erhältlich.

„Die Gedenk-App hilft, dass das Schicksal dieser Geistlichen nicht in Vergessenheit gerät“, sagt der Bischöfliche Beauftragte für KZ-Gedenkstättenarbeit in der Erzdiözese und Leiter der Katholischen Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte, Ludwig Schmidinger. In Kooperation der Erzdiözese mit der KZ-Gedenkstätte Dachau / Stiftung Bayerische Gedenkstätten wurden alle zur Verfügung stehenden Daten zusammengetragen. „Der Wert der App liegt nicht zuletzt darin, dass diese Daten von Geistlichen zum ersten Mal gebündelt dargestellt werden und gezielt abgefragt werden können“, so Schmidinger, Initiator des neuen digitalen Angebots. Ludwig Schmidinger ist Mitglied im Trägerkreis des Gedächtnisbuchs.

In die Datenbank aufgenommen wurden unter anderem Pfarrer, Kapläne, Vikare und Ordensmänner, darunter zum Beispiel der Selige Karl Leisner oder der im September 2019 selig gesprochene Pater Richard Henkes SAC. Per Suchfunktion können Namen, Geburts- und Sterbedaten, Geburts- und Sterbeoret, Wohnorte, Nationalitäten, Konfessionen sowie Diözesan- oder Ordenszugehörigkeiten recherchieren werden. Wer die App öffnet, bekommt auf einem Gedenkkalender als ersten Hinweis angezeigt, wenn sich der Todestag eines Häftlings am betreffenden Tag jährt. Darüber hinaus kann man auf den beiden Rundgängen „Geistliche im KZ“ und „Namen statt Nummern“ in jeweils sieben Stationen durch das Gelände der KZ-Gedenkstätte gehen. An den Haltepunkten erfahren die Besucherinnen und Besucher Details der Lebens- und Haftgeschichte von Insassen, ergänzt um biblische Texte und einen geistlichen Impuls. Diese Informationen sind nicht an den Besuch der Gedenkstätte gebunden, sondern können unabhängig davon nachgelesen oder als Meditationsvorlage verwendet werden.

Kostenlos über App-Stores erhältlich

Die Gedenk-App mit dem Titel „Geistliche im KZ Dachau“ ist kostenlos über den Applestore oder Google Play Store erhältlich. Neben Einzelpersonen können auch beispielsweise Pädagogen sie im Religionsunterricht einsetzen. Sie ist in den Sprachen Deutsch, Englisch und Polnisch verfügbar. Wer sich über die Nutzungsmöglichkeiten der App informieren möchte, findet dazu auf der Seite www.erzbistum-muenchen.de/spiritualitaet/gedenk-app weitere Hinweise. Dort ist auch ein Interview mit Ludwig Schmidinger nachzulesen.

Infos

APP Geistliche im KZ Dachau – im Google Playstore (Android)
https://play.google.com/store/apps/details?id=de.offergeldapplications.geistliche

APP Geistliche im KZ Dachau – im Applestore (iOS)
https://apps.apple.com/de/app/geistliche-im-kz-dachau/id1535535419

Informationsblatt zur APP „Geistliche im KZ Dachau“ zum Ausdrucken
https://www.gedenkstaettenseelsorge.de/files/dokumente/389-2020_11_01_KS_newsletter_APP_Geistliche.pdf

Falt-Informationsblatt zur APP
https://www.gedenkstaettenseelsorge.de/files/dokumente/389-2020_11_01_KS_APP_Geistliche_Faltblatt.pdf

Auch interessant

Im alphabetischen Verzeichnis der Gedächtnisblätter auf dieser Website finden sich Gedächtnisblätter für mehrere Geistliche, darunter auch die in diesem Beitrag erwähnten Personen.

Das Gedächtnisbuchprojekt bietet als Ergänzung zur Wanderausstellung „Namen statt Nummern“ eine Ausstellung „Geistliche im KZ Dachau“ zum Verleih. Weitere Informationen finden sich hier:

Internationale Wanderausstellung

(27.12.2020; IS)

Unterstützung für das Gedächtnisbuch

Karla Steeb, Teamunterstützerin an der Versöhnungskirche, arbeitet in den nächsten Monaten beim Gedächtnisbuch mit. Wir freuen uns sehr darüber! Wie es dazu kommt, berichtet Karla selbst:

„Bereits Anfang Oktober berichtete der Blog über meinen Besuch beim Gedächtnisbuch, als Frank Schleicher und ich in einem Gespräch mit Sabine Gerhardus die Möglichkeit bekamen, mehr über das Projekt zu erfahren. Damals war noch nicht klar, ob ich ab Ende November meinen Freiwilligendienst in Moskau doch noch antreten kann und mein Praktikumsvertrag an der Versöhnungskirche war bis Ende November befristet.

Diese Situation hat sich grundlegend verändert: Ich habe die Möglichkeit bekommen, bis zum Herbst des nächsten Jahres die Versöhnungskirche als Teamunterstützerin zu begleiten. Aus diesem Grund haben Sabine Gerhardus und ich uns am 10. Dezember erneut zu einem Gespräch zusammengesetzt.

Als Ergebnis dieses Gespräches werde ich ab Januar 2021 das Gedächtnisbuch-Projekt an einem Tag pro Woche unterstützen. Voraussichtlich wird meine Arbeit darin bestehen, französische Gedächtnisblätter zu übersetzen und somit auch für die deutschen Leser*innen zugänglich machen. Auch bei organisatorischen Aufgaben werde ich im Projekt mitwirken.

Wie genau sich die Zusammenarbeit im Laufe des Jahres entwickelt, wird sich sicherlich noch zeigen. Ich freue mich auf jeden Fall sehr auf die Zeit und darüber, dass ich jetzt doch noch die Möglichkeit habe, am Gedächtnisbuch mitzuwirken.“

(19.12.2020; Karla Steeb)

Das Gedächtnisbuch trauert um Wladimir Iwanowitsch Dschelali

Am 13. November 2020 starb der Überlebende des Konzentrationslagers Dachau, Wladimir Dschelali, in seiner Heimatstadt Mariupol. Im März 2020 wollte Wladimir Iwanowitsch noch zusammen mit seiner Tochter Vera Zolotar zur Präsentation der neuen Gedächtnisblätter nach Dachau kommen. 

Wladimir Dschelali mit seinen Schülerinnen und Schülern (Ausschnitt)

Die Schülerin Magdalena Gartner vom Max-Mannheimer-Gymnasium Grafing hat ein Gedächtnisblatt für ihn verfasst – es wäre ihr erstes Treffen mit Dschelali geworden, mit dem sie bis dahin nur via Email in Kontakt gestanden hatte. Die Präsentation musste wegen der Pandemie abgesagt werden und sollte 2021 nachgeholt werden. Nun ist der ehemalige Zwangsarbeiter in seiner Heimat einer Covid-19-Erkrankung erlegen. „Mich hat diese Nachricht sehr getroffen!“ schreibt Magdalena Gartner, als sie von Wladimir Dschelalis Tod erfährt.

Wladimir Dschelali wurde am 10. März 1925 in Wolnowacha / Ukr. SSR (UdSSR) geboren und wuchs als Angehöriger einer griechischen Minderheit in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol auf. Mit fast 17 Jahren wurde er zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Er floh aus dem Zwangsarbeiterlager in Saarbrücken, wurde verhaftet und im Juli 1942 ins KZ Dachau gebracht. Kurz vor der Befreiung gelang ihm die Flucht aus dem Außenlager Gendorf.

Wladimir Dschelali wurde erst Agronom, dann studierte er Musik. Er arbeitete als Musikdozent in Mariupol, schrieb zahlreiche Gedichte und liebte es, griechische Gerichte zu kochen. Das ehemalige Konzentrationslager Dachau hat er mehrfach besucht und auch als Zeitzeuge bei der Internationalen Jugendbegegnung gewirkt.

Wir wünschen der Familie von Wladimir Dschelali für diesen schmerzlichen Verlust Kraft und Trost.

Link zum Gedächtnisblatt:
Wladimir Dschelali

(12.12.2020; Text: Sabine Gerhardus)

 

Fazit aus der Projektarbeit „Biographisches Schreiben“

Antonia Mayer hat im Rahmen des W-Seminars „Biographisches Schreiben“ am Josef-Effner-Gymnasium in Dachau ein Gedächtnisblatt über Richard Titze geschrieben. Hier ihr persönliches Fazit aus der Projektarbeit:

„Die Arbeit für das Gedächtnisbuch ist meiner Meinung nach sehr wichtig. Sie sorgt dafür, dass die Opfer des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten und für ihre Taten gewürdigt werden. Außerdem lernt man beim Stöbern durch die verschiedensten Quellen viel über den Nationalsozialismus.

Im Gedenken an Menschen wie Richard Titze ist das Erinnern an die Geschehnisse besonders wichtig, da er in seinem Leben viel dafür gearbeitet hat, dass keine der Taten der Nationalsozialisten in Vergessenheit geraten. Um seine Arbeit fortzuführen und ihr einen weiteren Sinn zu geben, indem man sie mit anderen teilt, schrieb ich diese Seminararbeit.

Diese Recherche ist jedoch anders als im Geschichtsunterricht der Schule ein sehr spannender Prozess, da man jeden Teil der Geschichte direkt mit der jeweiligen Person verbinden kann […]. Durch das Verknüpfen zahlreicher Informationen beginnt man eine tiefe Verbindung mit der jeweiligen Person aufzubauen, ohne sie persönlich gekannt zu haben. In meinem Fall erfuhr ich neue Fakten über den Dachauer Aufstand, der mir zuvor nicht bekannt war. Durch das Suchen von Quellen über Richard Titze erfuhr ich viele Einzelheiten des Widerstands und konnte somit das Schicksal der Häftlinge des Konzentrationslagers  Dachau besser verstehen.

Besonders spannend an der Recherche war für mich, dass selbst aus sehr kurzen Quellen unglaublich viele Informationen entnehmbar sind. Dies macht das Auslesen der Quellen jedoch auch schwer, da diese Informationen in verschiedenster Weise ausgewertet werden können. Sehr dankbar war ich aus diesem Grund über die Hilfe von Herrn Triebfürst und Frau Gerhardus, die mir bei der Auswertung geholfen haben und mir Tipps gaben, wie ich besonders viele Informationen aus einer Quelle ziehen kann.

Für mich persönlich war die Arbeit im Archiv der KZ-Gedenkstätte vor Ort oder das Durchsuchen der Fotografien im Förderverein für Internationalen Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e.V. am spannendsten. Vor dem Besuch war nicht klar, auf welche Informationen und vor allem auf wie viele Informationen man stoßen würde, doch dies machte jeden neuen Fund besonders.“

(5.12.2020; IS)

W-Seminar Namen statt Nummern am Ignaz-Taschner-Gymnasium: Themenwahl getroffen

Zehn Schülerinnen und zwei Schüler des W-Seminars „Namen statt Nummern“ von Hedi Bäuml am Ignaz-Taschner-Gymnasium Dachau wissen jetzt, über welchen NS-Verfolgten sie ihre Gedächtnisblätter schreiben werden.

Die Schüler*innen werden sich in den nächsten Monaten mit Recherchemethoden, Archivarbeit, und Interviewführung beschäftigen und wollen bald selbst mit der Spurensuche beginnen. Bis auf eine Schülerin, die über eine ehemalige Lehrerin der Wirtschaftlichen Frauenschule in Wolfratshausen forscht, schreiben alle Beteiligten ihre Gedächtnisblätter über ehemalige Häftlinge des KZ Dachau und somit für das Gedächtnisbuch Dachau.

Fünf der neuen Biographien entstehen im Rahmen des Biographie-Projekts „Erinnern“ des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), sie handeln von jüdischen Pädagogen. Drei Biographien betreffen Menschen, die im Landkreis Dachau zu Hause waren. Sie sollen die Biographie-Sammlung der Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau ergänzen.

Einzelne Schüler*innen werden eng mit den Nachkommen der ehemaligen Häftlinge zusammenarbeiten. Bis Weihnachten stehen aber erst noch Seminarsitzungen auf dem Programm, in denen die die Recherchearbeit vorbereitet und die deutsche Schreibschrift geübt wird. Wir hoffen, dass die Pandemie diese wichtigen Vorbereitungen möglichst lang im Präsenzunterricht in der Schule zulässt. Noch wichtiger ist aber, dass die Archive Möglichkeiten finden werden, die Rechercheanfragen der Schüler*innen trotz erschwerter Bedingungen in Corona-Zeiten zu bearbeiten.

Die Schüler*innen sind jedenfalls schon gespannt auf alles, was sie herausfinden werden und ich freue mich auf ein spannendes neues Projektjahr am ITG.

(29.11.20; Text: Sabine Gerhardus)

Statt Blended Learning Online Only

Ursprünglich als Blended Learning-Veranstaltung geplant, musste das Seminar „Häftlingsschicksale – Leben und Leiden im KZ Dachau“ dann ausschließlich digital durchgeführt werden. Teilnehmende und Dozentinnen sind trotzdem zufrieden.

Screenshot aus dem Seminar „Häftlingsschicksale“

Auf Basis der Gedächtnisblätter führte das Dachauer Forum im November 2020 ein dreiteiliges Seminar zum Thema „Häftlingsschicksale – Leben und Leiden im KZ Dachau“ durch. Geplant waren digitale Vor- und Nachbereitung und ein Rundgang durch die KZ-Gedenkstätte Dachau. Dieser Rundgang musste schließlich durch eine digitalen Rundgang ersetzt werden, da die KZ-Gedenkstätte Dachau aufgrund der aktuellen Corona-Restriktionen geschlossen war.

Die vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewerteten das Seminar durchweg mit sehr guten Noten. Sie erwähnten im Feedback-Fragebogen auch, was ihnen besonders gut gefallen hat: „Der kollegiale Austausch, die entspannte Atmosphäre und die vielen Ideen.“ – „Einbezug der Gedächtnisblätter sowie die Art und Weise, wie das didaktisch geschah.“– „Die Referentinnen, das Miteinander, die Häftlingsbiographien.“

Zufrieden sind die beiden Referentinnen Brigitte Fiedler und Karin Schwenke, dass alles trotz der Umplanung in letzter Minute gut gelaufen ist. Brigitte Fiedler meint dazu: „Vorteil beim ersten Durchlauf [des Seminars] war sicher, dass es ein kleiner Kreis war. Das Arbeiten mit den Lebensgeschichten von Häftlingen macht es einfühlsamer und bleibt besser im Gedächtnis der Seminarteilnehmer!“

Karin Schwenke urteilt ähnlich: „Ich finde auch, dass das Seminar recht gut gelaufen ist. Es war eine offene Atmosphäre, die sowohl für uns Referentinnen wie auch für die Teilnehmer*innen viele Anregungen brachte. Die Auseinandersetzung mit den Gedächtnisblättern bringt das Schicksal der Häftlinge sehr nahe. Erleichtert bin ich, dass der digitale Rundgang so gut geklappt hat.“

(20.11.2020; IS)

 

 

Ausstellung „Namen statt Nummern“ läuft in Bielefeld

Die Hans-Ehrenberg-Schule in Bielefeld-Sennestadt zeigt noch bis zum 14. Dezember 2020 die Ausstellung des Gedächtnisbuchs „Namen statt Nummern“.

Marie-Luise Hußmann von der Hans-Ehrenberg-Schule erklärt, wie es kommt, dass die Ausstellung an der Schule gezeigt wird und wie die Ausstellung im Unterricht verwendet wird:

„Die Hans-Ehrenberg-Schule ist eine Schule in der Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist an der Hans-Ehrenberg-Schule ein fester Bestandteil des schulischen Profils.

Auch das Leben und Wirken des Namensgebers der Schule, Hans Philipp Ehrenberg (1883-1958), ist dabei handlungsleitend: Der im KZ-Oranienburg-Sachsenhausen inhaftierte judenchristliche Pfarrer und ehemalige Professor der Philosophie wirkte nach der Rückkehr aus der Emigration als Botschafter des Friedens und der Versöhnung in der westfälischen Landeskirche.

Die Ausstellung wird im Foyer der Schule gezeigt. Sie wird dort von Schüler*innen, Lehrer*innen und Mitarbeiter*innen der Schule besucht. Die Auseinandersetzung wird durch Weiterarbeit an den Biographien mit den Schüler*innen im Unterricht vertieft.“

Weitere Informationen zur Ausstellung entnehmen Sie bitte dem Veranstaltungskalender rechts auf dieser Website.

(14.11.20; IS)

 

Ernst Sillem (14.7.1923 – 17.10.2020)

Der niederländische Dachau-Überlebende Ernst Sillem ist am 17.10.2020 gestorben. Die Schülerin Sydney Weith hat 2013/14 ein Gedächtnisblatt über ihn geschrieben. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute Bestand gehabt hat. Zu Ernst Sillems Tod schreibt Sydney Weith:

English version below

Im September 2013 habe ich Ernst Sillem kennengelernt. In diesem Jahr machte ich zusammen mit einer Mitschülerin am Gedächtnisbuchprojekt ‘Namen statt Nummern’ mit. Wir waren nach Natzweiler gereist und hatten uns einer Gedenkfahrt mit ehemaligen niederländischen Häftlingen und ihren Angehörigen angeschlossen. Während dieser Reise hat Ernst seine erstaunliche Lebensgeschichte zum ersten Mal mit mir geteilt.

1941, als die Niederlande von den Deutschen besetzt waren, ist Ernst, damals 17 Jahre alt, in seine Schule eingebrochen. Aus Protest gegen die Besatzung schrieb er deutschfeindliche Parolen an die Wände. Kurz darauf versuchte er, zusammen mit seinem Freund Jaap van Mesdag in einem Kanu nach England zu fahren, um sich den alliierten Truppen anzuschließen. Unglücklicherweise wurden sie von der deutschen Kriegsmarine verhaftet. Ernst kam ins Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort, dann nacheinander in die Konzentrationslager Vught, Natzweiler und Dachau. Sowohl Ernst als auch Jaap waren in Dachau, als die Amerikaner das Lager 1945 befreiten.

Man würde erwarten, jemand, der so viel leiden musste, würde verbittern. Ernsts Geist ist jedoch nie gebrochen worden. Er betrachtete die Zeit, die er in den Lagern verbringen musste, als eine Lehrzeit. Er war davon überzeugt, der wichtigste Grund für sein Überleben war, dass er seine Hoffnung behalten hat.

Nach unserer ersten Begegnung 2013 habe ich den Kontakt mit Ernst gehalten und und unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Was 2013 angefangen hat mit der Anfertigung eines Gedächtnisblatts für Namen statt Nummern,  wurde sehr viel mehr. Ein Buch, eine Theateraufführung, eine Ausstellung im Widerstandsmuseum in Amsterdam und in der KZ-Gedenkstätte Dachau folgten. Diese Erfahrungen haben mir die Chance gegeben, ganz viele inspirierende Menschen zu treffen und inspirierende Orte zu besuchen. Aber am wichtigsten: Es entstand eine richtige Freundschaft zwischen Alt und Jung.

Ich war sehr traurig, als ich hörte, dass mein lieber Freund Ernst am 17. Oktober 2020 in Carpentras, Frankreich, gestorben ist. Im Alter von 97 Jahren ist ein außergewöhnliches Leben an sein Ende gekommen. Ich bin dankbar für die warmherzigen Begegnungen, die altmodischen, handgeschriebenen Briefe und die angenehmen Gespräche. Ich muss lächeln, wenn ich zurückdenke an den vielen faszinierenden Geschichten, die er mir erzählt hat, den Optimismus, mit dem er dem Leben entgegen getreten ist, und auch den Humor, der so charakteristisch für ihn war.

Namen statt Nummern hat die Kraft, Generationen miteinander zu verbinden. Ich werde unsere Freundschaft sehr vermissen. 

Syndney Weith

English Version:

It was september 2013 when I first met Ernst Sillem. Together with a classmate I participated in the Namen statt Nummern project. We had travelled to Natzweiler to join a memorial trip for ex-prisoners of concentration camp Natzweiler and their relatives. It was during this trip to Natzweiler that Ernst first shared his amazing life story with me.

In the year 1941, during the German occupation of the Netherlands, 17-year old Ernst broke into his high school. In protest of the occupation he wrote anti-German slogans all over the walls of the school. Shortly thereafter and together with his best friend Jaap van Mesdag, Ernst attempted to sail to England in a canoe to join the military service. Unfortunately, they were captured by the Nazi German navy (Kriegsmarine). Ernst was eventually imprisoned in camp Amersfoort, followed by camp Vught, camp Natzweiler, and camp Dachau. Both Ernst and his best friend Jaap were imprisoned in Dachau when American soldiers liberated the camp in 1945.

You might expect someone to become bitter after going through so much suffering. However, it never broke Ernst’s spirit. He saw the war and the time he spent in the multiple camps as a learning experience. According to him the most important reason that he survived was that he always kept faith.

After our first encounter in 2013, I stayed in touch with Ernst and our paths kept crossing. What started with a biography for Namen statt Numern in 2013, grew to become so much more. A book, theater play, and exhibition in both the Resistance museum in Amsterdam and the KZ Dachau followed. These experiences gave me the opportunity to meet so many inspiring people and to visit many inspiring places; but most importantly: a true friendship arose between old and young.

It is with great sadness that I heard that my dear friend Ernst had passed away on October 17th in Carpentras, France. Having reached the age of 97, an extraordinary life has come to an end. I am grateful for seven years full of warm encounters, old-fashioned handwritten letters and enjoyable conversations. It makes me smile thinking about all the intriguing stories he shared with me, the optimism with which he faced life and the sense of humor that typified him.

Namen statt Nummern has the power of connecting generations. I will miss our friendship deeply.      

Sydney Weith

 

(30.10.2020; Foto: Marga Tupang; Text: Sydney Weith)

 

Birgitta Unger-Richter übernimmt Schirmherrschaft der Geschichtswerkstatt

Kreisheimatpflegerin Birgitta Unger-Richter übernimmt die Schirmherrschaft der Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau. Die Geschichtswerkstatt arbeitet eng mit dem Gedächtnisbuch zusammen.

Der bisherige Schirmherr, Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler, war Mitinitiator der Geschichtswerkstatt. Göttler wirkte sowohl in der ersten Projektphase 2010 bis 2014 in der LEADER-Förderung zum Thema „Nach der Stunde Null – 1945 bis 1949“ als auch in der zweiten Projektphase 2014 bis 2020 zum Thema „Die 50er Jahre- Wirtschaftswunder und Verdrängung“ maßgeblich mit. Bei vielen Ausstellungseröffnungen setzte er mit seinen Grußworten einen Kontext. Ein besonderes Anliegen war ihm das Biografieprojekt mit der Ausstellung zu Georg Scherer in Dachau.

Birgitta Unger-Richter übernimmt nun die Schirmherrschaft und setzt ihre langjährige engagierte Mitarbeit in der Geschichtswerkstatt in dieser neuen Rolle fort. Sie startet derzeit mit der nächsten Projektphase zum Thema “Wandel des Handwerksberufs und des Gewerbes“. Erste Recherchen und Zeitzeugeninterviews laufen bereits unter der Regie von Projektleiterin Annegret Braun. Eine Wanderausstellung ist für Herbst 2021 avisiert.

„Die enge Zusammenarbeit von Heimatpflege und Erwachsenenbildung wird in der Geschichtswerkstatt fortgeführt.“ Darüber freut sich Annerose Stanglmayr, Geschäftsführerin des Dachauer Forum, die sich bei Bezirksheimatpfleger und Kreisheimatpflegerin sehr herzlich bedankt.

(23.10.2020; IS)