Acht neue Gedächtnisblätter. Bericht von der Jahrespräsentation 2023

Am 90. Jahrestag der Errichtung des Konzentrationslagers Dachau am 22. März 2023 fand die Jahrespräsentation des Gedächtnisbuchs statt. Acht neue Biographien von Dachau-Häftlingen erarbeiteten ehrenamtliche Autorinnen und Autoren für das Gedächtnisbuch, davon vier über polnische Häftlinge.

„Nach Dachau wurden mehr als 40000 Polen deportiert, wo sie unter besonders grausamen Bedingungen litten.“, informiert Projektleiterin Sabine Gerhardus in ihrer Einleitung. Im Gedächtnisbuch gab es bisher nur zwölf Lebensgeschichten polnischer KZ-Häftlinge. Nicht zuletzt das 2022 angelaufene deutsch-polnische Erasmusprojekt des Gedächtnisbuchs mit der Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz/Oświęcim ermöglichte es, hier einen Schwerpunkt bei der Erarbeitung neuer Gedächtnisblätter zu setzen.

Wacław Fogler

Władysława Lorych, die Tochter von Wacław Fogler, verfasste das Gedächtnisblatt über ihren Vater Wacław Fogler. Leider konnte sie zur diesjährigen Präsentation aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen. Jan Kwiatkowski sprang in die Bresche und referierte die Lebensgeschichte von Fogler. Der 1890 geborene Friseur aus Ostrzeszów war von April 1940 bis zu seiner Befreiung am 29. April 1945 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert.

Kwiatkowski richtete dem Publikum Grüße der Verfasserin aus, das Gedenken an ihren Vater sei ihr ein großes Anliegen.

Johann Baptist Hugl

Hedi Bäuml, die gerade am Dachauer Taschner-Gymasium ihr drittes W-Seminar im Rahmen des Gedächtnisbuchs betreut, stellte mit Johann Baptist Hugl einen Mann aus ihrer oberpfälzischen Heimatstadt Pfreimd in den Mittelpunkt ihrer Recherchen. Hans Hugl war als sogenannter „Arbeitszwang-Häftling“ von Mai 1940 bis zum 8.5.1945 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Neuengamme, Dachau, Lublin, Auschwitz und Mauthausen inhaftiert.

Als Quelle konnte Hedi Bäuml unter anderen einen Erfahrungsbericht von Hugl heranziehen, den der Verfasser in der Nachkriegszeit im Selbstverlag veröffentlicht hat. Was findet die Verfasserin des Gedächtnisblatts an der Lebensgeschichte von Johann Baptist Hugl besonders bemerkenswert? „Für mich persönlich grenzt es an ein Wunder, dass er die Strapazen und Torturen – die drei B im Konzentrationslager Bock, Baum, Bunker – überstanden hat. Das gelang ihm sicher nur mit eisernem Willen und dafür zolle ich ihm meinen Respekt.“

Grußwort von Vera Zolotar

Die Biographie von Vera Zolotars Vater Wladimir Dschelali sollte am 22. März 2020 auf der Präsentation des Gedächtnisbuchs vorgestellt werden. Die Veranstaltung entfiel und, besonders tragisch, Wladimir Dschelali starb noch 2020 an Covid-19.

Seine Tochter Vera Zolotar, die inzwischen im Landkreis Dachau lebt, trat mit einem flammenden Anliegen an das Rednerpult: „Ich möchte den Wunsch vieler Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Religionen und Altersgruppen laut aussprechen: Wir wollen das lang ersehnte Ende des Krieges! Wir wollen, dass Russland aufhört, die ukrainischen Städte und das Leben der ukrainischen Menschen zu zerstören! Und bitte: Nie wieder!“

Franz Brückl/ Franciszek (Franz) Przybylski

Monika Lücking stellte mit Franz Brückl einen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Biographie, den sie selbst bei vielen Zeitzeugengesprächen erlebt hat. Der 1910 in Posen/Poznań geborene Franciszek/Franz Przybylski erlitt die Zeit von März 1940 bis zur Befreiung am 29. April 1945 in den Konzentrationslagern Fort VII Posen und Dachau. Nach dem Krieg blieb er in München, erwarb die deutsche Staatsangehörigkeit, heiratete und nahm den Mädchennamen seiner Frau an.

„Lange Zeit schwieg er über seine Erlebnisse.“, berichtete Monika Lücking. „Aber als Rentner fand er eine neue Aufgabe. Unermüdlich setzte er sich ein für Versöhnung und Erinnerung und Gedenken.“

Stefan Wincenty Frelichowski

Hania Fedorowicz würdigte in ihrer Präsentation den polnischen Priester Stefan Wincenty Frelichowski. „Für mich war das ein Mensch mit einem großen Herz und großer Lebenslust.“, erläuterte die Referentin, die in der Uniform der polnischen Pfadfinder vor das Publikum trat.

Frelichowski war in Fort VII bei Toruń, dann in den Konzentrationslagern Stutthof, Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. Nachdem er sich um an Typhus erkrankte Mithäftlinge gekümmert hatte, starb er im Februar 1945 selbst an dieser Krankheit. Papst Johannes Paul II. sprach Stefan Wincenty Frelichowski 1999 selig, seit 2003 ist Frelichowski Schutzpatron der polnischen Pfadfinder.

„Im Rahmen dieses Projekts habe ich einen einfachen Priester kennengelernt, der vom außerordentlichen Gefühl erfüllt war, in unmenschlichen Zeiten das Böse mit dem Guten zu überwinden. Sein Lebenszeugnis ist nach wie vor ein Aufruf an unsere Generation.“, stellte Hania Fedorowicz am Ende ihres Vortrags fest.

Karl Frey

Maria Rauscher mit drei Schülern aus der Gruppe „Courage“

Die Schülergruppe Courage der Johann-Turmair-Realschule Abensberg unter der Leitung von Lehrerin Maria Rauscher widmete ihr Gedächtnisblatt dem Neustädter KPD-Mitglied Karl Frey, der mit einer kurzen Unterbrechung die gesamte NS-Zeit in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen verbringen musste. Drei Tage vor der Befreiung gelang ihm die Flucht aus dem Außenlager Gestapo München.

Die fünf Schülerinnen und Schüler trugen ihre Recherche-Ergebnisse gemeinsam vor. Ihr Resümee: „Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass eine so lange Haftzeit nicht mit 12 Jahren einfach vorbei war, sondern ein Leben dauerhaft prägt.“

Grußwort von Alexander Frey

Was möchte Alexander Frey, der Sohn von Karl Frey, den jungen Leuten, die sich so intensiv mit der Biographie seines Vaters auseinandergesetzt haben, gerne mit auf den Weg geben? Diese Frage stellte Lehrerin Maria Rauscher an Frey, der nach der Schülergruppe ans Rednerpult trat.

Alexander Frey plädierte für ein aktives und entschlossenes Eintreten für die Demokratie: „Demokratie ist keine Staatsform, die immer und ewig besteht.“ Der Redner weist auf rechte Tendenzen hin, die es zurzeit überall gibt, in Kirchen, in Wohlfahrtsverbänden, in Sportvereinen, in den Gewerkschaften, in der Kultur, einfach überall. „Passen wir auf, es liegt an uns allen, wir dürfen nicht nachlassen!“

Leo Kahn

Die Autorin des Gedächtnisblatts über Leo Kahn, die ASF-Freiwillige Ioanna Taigacheva, konnte leider nicht selbst vortragen, so dass Projektleiterin Sabine Gerhardus in die Bresche sprang.

Leo Kahn war ein jüdischer Religions- und Volksschullehrer, den die Nazis nach der Reichspogromnacht einen Monat lang im KZ Dachau einsperrten und schikanierten. Emigrationsversuche der Familie Kahn scheiterten, lediglich ein Neffe Leo Kahns konnte als Teilnehmer eines Kindertransport in der Schweiz überleben. Leo Kahn wurde 1942 mit seiner Frau und seiner 8-jährigen Tochter ins Ghetto Izbica deportiert und ermordet.

Was fand die Verfasserin des Gedächtnisblatts besonders bemerkenswert? „Es ist die blutrünstige Pedanterie, mit der alles bürokratisch erfasst wurde. Wie diese Maschinerie der Massenvernichtung funktioniert hat. Dass von einer ganzen Familie nur ein Mensch überleben konnte, der zu diesem Zeitpunkt Glück hatte.“

Otto Beer

„Lebensgeschichten, die mit Konzentrationslagern verbunden sind, werden oft vom Ende her erzählt. Es gab aber immer ein Leben davor, das oft zu schnell aus dem Blick gerät.“ Diese Bemerkung stellte Klaus Schultz, Gründer und ständiger Begleiter des Gedächtnisbuchs seit den Anfängen des Projekts 1999, der Biographie Otto Beers voraus.

Bereits als Schüler war Otto Beer dem FC Bayern beigetreten, ab 1926 verantwortete er als Jugendfunktionär den Aufbau einer Schülerabteilung. In der NS-Zeit wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Verein ausgeschlossen. Vom 10. November 1938 bis zum 12. Dezember 1938 war er Häftling im Konzentrationslager Dachau. In der Zeit danach scheiterten Auswanderungsversuche. Otto Beer, seine Frau Nelly und die Söhne Ernst Rudolf und Kurt Gustav wurden 1941 aus München nach Kaunas deportiert und am 25. November 1941 ermordet.

Teodor Makieła

Mehrere Angehörige von Teodor Makieła waren zur Präsentation angereist. Der Enkel Tomasz Makieła präsentierte das von seinem ebenfalls anwesenden Vater Marek Makieła erstellte Gedächtnisblatt. Der im Gedächtnisblatt porträtierte Teodor Makieła lebte als Besitzer eines Friseursalons in Ostrzeszów und wurde nach der Denunziation eines Kunden im Mai 1940 in das KZ Dachau eingewiesen, wo er bis zum im Mai 1941 inhaftiert war.

Im Anschluss an Tomasz Makieła ergriff Marek Makieła das Wort. Er berichtete, dass sich im Frühjahr 2020 die Massenverhaftung durch die deutsche Besatzungsmacht in Ostrzeszów zum  80. Mal jährte. 1940 waren etwa 140 Personen aus Ostrzeszów und Umgebung in das Konzentrationslager Dachau verschleppt worden. Zu diesem Jahrestag organisierte der Heimatverein und Regionalmuseum Ostrzeszów ein Treffen der Familienangehörigen ehemaliger Häftlinge.

„Gleichzeitig begannen wir mit Archivrecherchen in Polen und Deutschland, um eine vollständige Liste dieser Menschen zu erstellen und möglichst viele Informationen über sie zu finden.“, berichtete Marek Makieła. Bisher konnten 40 Familien der Deportierten ausfindig gemacht werden. Zwei Biographien der in Dachau inhaftierten Menschen wurden in der Veranstaltung dem Publikum vorgestellt, weitere Häftlingsbiographien sind in Arbeit.  

Marek Makieła überbrachte ein Geschenk des Regionalmuseums Ostrzeszów und überreichte Sabine Gerhardus ein Foto, das Gefangene zeigt, die von deutschen Polizisten 1940 in Ostrzeszów zum Bahnhof geführt werden.

(29.3.2023; Irene Stuiber)